Die Biene Maja

und ihre Abenteuer

Waldemar Bonsels

Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig

Inhalt

  1. Majas Flucht aus der Heimatstadt
  2. Peppis Rosenhaus
  3. Der Waldsee und seine Leute
  4. Iffi und Kurt
  5. Der Grashüpfer
  6. Puck
  7. Majas Gefangenschaft bei der Spinne
  8. Die Wanze und der Schmetterling
  9. Hannibals Kampf mit dem Menschen
  10. Die Wunder der Nacht
  11. Die Elfenfahrt
  12. Der Dichter Alois Siebenpunkt
  13. Die Räuberburg
  14. Die Flucht
  15. Die Heimkehr
  16. Die Schlacht der Bienen und Hornissen
  17. Die Freundin der Königin

Erstes Kapitel

Majas Flucht aus der Heimatstadt

Die ältere Bienendame, die der kleinen Biene Maja behilflich war, als sie zum Leben erwachte und aus ihrer Zelle schlüpfte, hieß Kassandra und hatte großes Ansehen im Stock. Es waren damals sehr aufgeregte Tage, weil im Volk der Bienen eine Empörung ausgebrochen war, die die Königin nicht unterdrücken konnte.

Während die erfahrene Kassandra der kleinen Maja, deren Erlebnisse ich erzählen werde, die großen blanken Augen trocknete und ihr die zarten Flügel etwas in Ordnung zu bringen suchte, brummte der große Bienenstock bedrohlich, und die kleine Maja fand es sehr warm und sagte es ihrer Begleiterin.

Kassandra sah sich besorgt um, aber sie antwortete der Kleinen nicht gleich. Sie wunderte sich darüber, daß das Kind schon so früh etwas auszusetzen fand, aber im Grunde war es richtig, die Wärme und das Gedränge waren beinahe unerträglich. Maja sah ununterbrochen Biene auf Biene an sich vorübereilen, das Geschiebe und die Eile waren so groß, daß zuweilen die eine über die andere fortkletterte und wieder andere sich wie zu Klumpen geballt vorüberwälzten.

Einmal war die Königin in ihrer Nähe gewesen. Kassandra und Maja wurden etwas beiseitegedrängt, aber eine Drohne, ein freundlicher junger Bienenherr von gepflegtem Aussehen, war ihnen behilflich. Er nickte Maja zu und strich sich etwas erregt mit dem Vorderbein, das bei den Bienen als Arm und Hand gebraucht wird, über seine glänzenden Brusthaare.

„Das Unheil wird hereinbrechen“, sagte er zu Kassandra. „Der Schwarm der Revolutionäre wird die Stadt verlassen. Sie haben schon eine neue Königin ausgerufen.“

Kassandra beachtete ihn fast gar nicht. Sie hatte sich nicht einmal für die Hilfe bedankt, und Maja empfand deutlich, daß die alte Dame recht unfreundlich gegen den jungen Herrn war. Sie wagte nicht recht zu fragen, die Eindrücke kamen alle so rasch hintereinander und drohten sie zu überwältigen. Die Erregung teilte sich ihr mit, und sie begann ein feines helles Summen.

„Was fällt dir ein“, sagte Kassandra. „Ist nicht schon Lärm genug?“

Maja war sofort still und richtete ihre Augen fragend auf ihre ältere Freundin.

„Komm hierher,“ sagte diese zu Maja, „wir wollen versuchen, uns hier etwas zu sammeln.“

Sie schob Maja bei ihrem schönen glänzenden Flügel, der noch weich und ganz neu und wundervoll durchsichtig war, in eine wenig besuchte Ecke vor ein paar Wabenschränke, die mit Honig gefüllt waren.

Maja blieb stehn und hielt sich an einem der Schränke fest.

„Hier riecht es ausgezeichnet“, sagte sie zu Kassandra.

Die Alte wurde wieder ganz nervös:

„Du mußt warten lernen“, antwortete sie. „Kind, ich habe in diesem Frühling schon viele hundert junge Bienen erzogen und für ihre erste Ausfahrt unterrichtet, aber mir ist noch keine vorgekommen, die so naseweis gewesen wäre. Du scheinst eine Ausnahmenatur zu sein.“

Maja errötete und fuhr mit den beiden zarten Fingerchen ihrer Hand in den Mund:

„Was ist das?“ fragte sie schüchtern, „eine Ausnahmenatur.“

„O, das ist etwas durchaus Unschickliches“, rief Kassandra, die allerdings die Handbewegung der kleinen Biene meinte und ihre Frage nicht beachtet hatte. „Jetzt merke genau auf alles, was ich dir sage, denn ich kann dir nur kurze Zeit widmen, es sind schon wieder neue Junge ausgeschlüpft und meine einzige Gehilfin in dieser Etage, Turka, ist ohnehin aufs äußerste überarbeitet und klagte in den letzten Tagen über Ohrensausen. Setz dich hier.“

Maja gehorchte und schaute mit ihren großen braunen Augen auf ihre Lehrerin.

„Die erste Regel, die eine junge Biene sich merken muß,“ sagte Kassandra und seufzte, „ist, daß jede in allem, was sie denkt und tut, den anderen gleichen und an das Wohlergehn aller denken muß. Es ist bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die richtige erkannt haben und die sich auch aufs beste bewährt hat, die einzige Grundlage für das Wohl des Staates. Morgen wirst du ausfliegen. Eine ältere Gefährtin wird dich begleiten. Du darfst zuerst nur kleine Strecken fliegen und mußt dir die Gegenstände genau merken, an denen du vorüberkommst, damit du immer zurückfliegen kannst. Deine Begleiterin wird dir die hundert Blumen und Blüten beibringen, die den besten Honig haben, die mußt du auswendig lernen, das bleibt keiner Biene erspart. Die erste Zeile kannst du dir gleich merken: ‚Heidekraut und Lindenblüte.‘ Sag es nach.“

„Das kann ich nicht,“ sagte die kleine Maja, „das ist furchtbar schwer. Ich werde es ja später auch schon sehn.“

Die alte Kassandra riß die Augen auf und schüttelte den Kopf.

„Mit dir wird es schlecht hinausgehn,“ seufzte sie, „das sehe ich schon jetzt.“

„Soll ich denn später den ganzen Tag Honig sammeln?“ fragte die kleine Maja.

Kassandra seufzte tief und sah die kleine Biene einen Augenblick ernst und traurig an. Es erschien, als erinnerte sie sich ihres eigenen Lebens, das von Anfang bis zu Ende voll Mühe und Arbeit gewesen war. Und dann sagte sie mit veränderter Stimme und sah Maja liebreich an:

„Meine kleine Maja, du wirst den Sonnenschein kennenlernen, hohe grüne Bäume und blühende Wiesen voller Blumen, Silberseen und schnelle glitzernde Bäche, den strahlenden blauen Himmel, und zuletzt vielleicht sogar den Menschen, der das Höchste und Vollkommenste ist, was die Natur hervorgebracht hat. Über allen diesen Herrlichkeiten wird dir deine Arbeit zur Freude werden. Sieh, dies alles steht dir ja noch bevor, mein Herzelein, du hast Grund, glücklich zu sein.“

„Gut,“ sagte die kleine Maja, „das will ich denn auch.“

Kassandra lächelte gütig. Sie wußte nicht recht, woher es kam, aber sie hatte plötzlich eine ganz besondere Liebe zur kleinen Maja gefaßt, wie sie sich kaum erinnerte jemals für eine andere junge Biene gefühlt zu haben. Und so mag es denn wohl gekommen sein, daß sie der kleinen Maja mehr sagte und erzählte, als für gewöhnlich die Bienen an ihrem ersten Lebenstag hören. Sie gab ihr vielerlei besondere Ratschläge, warnte sie vor den Gefahren der argen Welt draußen und nannte ihr die gefährlichsten Feinde, die das Volk der Bienen hat. Endlich sprach sie auch lange von den Menschen und legte in das Herz der keinen Biene die erste Liebe zu ihnen und den Keim einer großen Sehnsucht, sie kennenzulernen.

„Sei höflich und gefällig gegen alle Insekten, die dir begegnen,“ sagte sie zum Schluß, „dann wirst du mehr von ihnen lernen, als ich dir heute sagen kann, aber hüte dich vor den Hornissen und Wespen. Die Hornissen sind unsere mächtigsten und bösesten Feinde, und die Wespen sind ein unnützes Räubergeschlecht ohne Heimat und Glauben. Wir sind stärker und mächtiger als sie, aber sie stehlen und morden, wo sie können. Du kannst deinen Stachel gegen alle Insekten brauchen, um dir Achtung zu verschaffen und um dich zu verteidigen, aber wenn du ein warmblütiges Tier stichst oder gar einen Menschen, so mußt du sterben, weil dein Stachel in ihrer Haut hängenbleibt und zerbricht. Steche solche Wesen nur im Falle der höchsten Not, aber dann tu es mutig und fürchte den Tod nicht, denn wir Bienen verdanken unser großes Ansehen und die Achtung, die wir überall genießen, unserem Mut und unserer Klugheit. Und nun leb wohl, kleine Maja, hab Glück in der Welt und sei deinem Volk und deiner Königin treu.“

Die kleine Biene nickte und erwiderte den Kuß und die Umarmung ihrer alten Lehrerin. Sie legte sich mit heimlicher Freude und Erregung zum Schlaf nieder und konnte vor Neugierde kaum einschlummern, denn mit dem kommenden Tag sollte sie die große weite Welt kennenlernen, die Sonne, den Himmel und die Blumen.

In der Bienenstadt war es inzwischen ruhig geworden. Ein großer Teil der jüngeren Bienen hatte das Reich verlassen, um einen neuen Staat zu begründen. Lange hörte man den großen Schwarm im Sonnenschein brausen. Es war nicht aus Übermut oder böser Gesinnung gegen die Königin geschehn, sondern das Volk hatte sich so stark vermehrt, daß die Stadt nicht mehr Raum genug für alle Bewohner bot und daß unmöglich so viel Honigvorräte eingebracht werden konnten, daß alle über den Winter ihr Auskommen hatten. Denn ein großer Teil des Honigs, der im Sommer gesammelt wurde, mußte an den Menschen abgetreten werden. Das waren alte Staatsverträge, dafür sicherten die Menschen das Wohlergehn der Stadt, sorgten für Ruhe und Sicherheit und im Winter für Schutz gegen die Kälte.

Am anderen Morgen hörte Maja an ihrem Lager den fröhlichen Ruf:

„Die Sonne ist aufgegangen!“

Sofort sprang sie empor und schloß sich einer Honigträgerin an.

„Gut,“ sagte diese freundlich, „du kannst mit mir fliegen.“

Am Tor hielten die Wächter sie an. Es war ein rechtes Gedränge. Einer der Torhüter sagte der kleinen Maja das Losungswort ihres Volkes, ohne das keine Biene in die Stadt gelassen wird.

„Merk es dir“, sagte er, „und viel Glück auf deinen ersten Weg.“

Als die kleine Biene vor das Stadttor trat, mußte sie die Augen schließen vor der Fülle von Licht, die ihr entgegenströmte. Es war ein Leuchten von Gold und Grün, so über alles reich und warm und strahlend, daß sie vor Seligkeit nicht wußte, was sie tun oder sagen sollte.

„Das ist aber wirklich großartig“, sagte sie zu ihrer Begleiterin. „Fliegt man da hinein?!“

„Nur zu!“ sagte die andere.

Da hob die kleine Maja ihr Köpfchen, bewegte ihre schönen neuen Flügel und empfand plötzlich, daß das Flugbrett, auf dem sie saß, zu versinken schien. Und zugleich war ihr, als glitte das Land unter ihr fort, nach hinten hin fort, und als kämen die großen grünen Kuppeln vor ihr auf sie zu.

Ihre Augen glänzten, ihr Herz jubelte.

„Ich fliege,“ rief sie, „das kann nur Fliegen sein, was ich tue! Das ist aber in der Tat etwas ganz Ausgezeichnetes.“

„Ja, du fliegst“, sagte die Honigträgerin, die Mühe hatte, an Majas Seite zu bleiben. „Das sind die Linden, auf die wir zufliegen, unsere Schloßlinden, daran kannst du dir die Lage unserer Stadt merken. Aber du fliegst wirklich sehr schnell, Maja.“

„Das kann man gar nicht rasch genug“, sagte Maja. „O, wie duftet der Sonnenschein!“

„Nein,“ sagte die Trägerin, die etwas außer Atem war, „das sind die Blüten. Aber nun fliege langsamer, sonst bleibe ich zurück, und du kannst dir auch auf diese Art die Gegend nicht für den Rückweg merken.“

Aber die kleine Maja hörte nicht. Sie war wie in einem Rausch von Freude, Sonne und Daseinsglück. Ihr war, als glitte sie pfeilgeschwind durch ein grünleuchtendes Meer von Licht, einer immer größeren Herrlichkeit entgegen. Die bunten Blumen schienen sie zu rufen, die stillen beschienenen Fernen lockten sie und der blaue Himmel segnete ihren jauchzenden Jugendflug. So schön wird es nie mehr, wie es heute ist, dachte sie, ich kann nicht umkehren, ich kann an nichts denken, als an die Sonne.

Unter ihr wechselten die bunten Bilder, langsam und breit zog das friedliche Land im Licht dahin. Die ganze Sonne muß aus Gold sein, dachte die kleine Biene.

Als sie über einem großen Garten angelangt war, der in lauter blühenden Wolken von Kirschbäumen, Rotdorn und Flieder zu ruhn schien, ließ sie sich zu Tode erschöpft nieder. Sie fiel in ein Beet von roten Tulpen und hielt sich an einer der großen Blüten fest, preßte sich an die Blumenwand, atmete tief und beseligt und sah über den schimmernden Lichträndern der Blume den strahlend blauen Himmel.

„O, wie tausendmal schöner ist es in der großen Welt draußen,“ rief sie, „als in der dunklen Bienenstadt. Niemals werde ich nach dort zurückkehren, um Honig zu tragen oder Wachs zu bereiten. O nein, niemals werde ich das tun. Ich will die blühende Welt sehen und kennenlernen, ich bin nicht, wie die andern Bienen sind, mein Herz ist für Freude und Überraschungen, für Erlebnisse und Abenteuer bestimmt. Ich will keine Gefahren fürchten, habe ich nicht Kraft und Mut und einen Stachel?“

Sie lachte vor Übermut und Freude und nahm einen tiefen Schluck Honigsaft aus dem Kelch der Tulpe.

Großartig, dachte sie, es ist wirklich herrlich, zu leben.

Ach, wenn die kleine Maja geahnt hätte, wie vielerlei an Gefahren und Not ihrer wartete, hätte sie sich sicherlich besonnen. Aber sie ahnte es nicht und blieb bei ihrem Vorsatz. Ihre Müdigkeit überwältigte sie bald, und sie schlief ein. Als sie erwachte, war die Sonne fort, und das Land lag in Dämmerung. Ihr Herz schlug doch ein wenig, und sie verließ zögernd die Blume, die im Begriff war, sich für die Nacht zu schließen. Unter einem großen Blatt, hoch im Wipfel eines alten Baums, versteckte sie sich, und im Einschlafen dachte sie zuversichtlich:

Ich will nicht gleich am Anfang den Mut verlieren. Die Sonne kommt wieder, das ist bestimmt, Kassandra hat es gesagt, man muß nur fest und ruhig schlafen.

Zweites Kapitel

Peppis Rosenhaus

Als die kleine Maja erwachte, war es schon hell geworden. Sie fror ein wenig unter ihrem großen grünen Blatt, und die ersten Bewegungen, die sie machte, gelangen ihr nur schwerfällig und langsam. Sie hielt sich an einem Äderchen des Blattes fest und ließ ihre Flügel zittern und flimmern, damit sie geschmeidig und frei von Staub werden möchten. Dann glättete sie ihre blonden Haare und wischte sich die großen Augen blank. Vorsichtig kroch sie etwas weiter, bis an den Rand des Blattes, und schaute sich um.

Sie war ganz geblendet von der Pracht und dem Glanz der Morgensonne umher. Die Blätter leuchteten wie grünes Gold hoch über ihr, da wo sie selbst saß, war es noch kühl im Schatten.

O du herrliche Welt, dachte die kleine Biene.

Nur langsam entsann sie sich aller Erlebnisse des vergangenen Tags, aller Gefahren und aller Schönheiten, die sie gesehn hatte. Aber sie blieb entschlossen, nicht in den Stock zurückzukehren. Freilich, wenn sie an Kassandra dachte, klopfte ihr Herz. Aber es war ja unmöglich, daß Kassandra sie jemals finden würde. Nein, es war nun einmal ihre Freude nicht, immer ein und ausfliegen zu müssen, Honig zu tragen oder Wachs zu bereiten. Sie wollte glücklich und frei sein und das Leben auf ihre Art genießen, mochte kommen was wollte, sie würde es ertragen. So leichtsinnig dachte Maja, jedenfalls auch deshalb, weil sie keine rechte Vorstellung von allem hatte, was ihrer noch wartete.

Irgendwo fern in der Sonne schimmerte es rot. Maja sah es glänzen und leuchten, und eine heimliche Ungeduld befiel sie. Sie verspürte auch, daß sie hungrig war. Da schwang sie sich mutig mit einem hellen frohen Summen aus ihrem Versteck, weit hinein in die helle flimmernde Luft und in den warmen Sonnenschein. Sie steuerte in ruhigem Flug grade auf das rote Blumenlicht zu, das ihr zu winken schien, und als sie in die Nähe kam, spürte sie den Hauch eines so süßen Duftes, daß sie beinahe betäubt wurde und die große rote Blume nur mit Mühe erreichte. Sie schwang sich auf das äußerste, gewölbte Blumenblatt und hielt sich fest. Da rollte ihr, mit der leisen Bewegung, in die das Blatt geraten war, eine funkelnde silberne Kugel entgegen, fast so groß wie sie selbst, durchsichtig und flimmernd in allen Farben des Regenbogens. Maja erschrak furchtbar, obgleich die Pracht dieser kühlen Silberkugel sie entzückte. Der durchsichtige Ball rollte vorüber, neigte sich über den Rand des Blattes, sprang in den Sonnenschein und fiel nieder ins Gras.

Maja stieß einen leisen Ruf des Schreckens aus, als sie sah, daß die schöne Kugel unten in viele winzige Perlchen zersprungen war. Aber es flimmerte nun im Gras so belebt und frisch, rann in zitternden Tröpflein an den Halmen nieder und funkelte, wie Diamanten im Lampenlicht blitzen. Maja hatte erkannt, daß es ein großer Wassertropfen gewesen war, der sich im Kelch der Blume in der feuchten Nacht gebildet hatte.

Als sie sich dem Kelch wieder zuwandte, sah sie einen Käfer mit braunen Flügeldecken und einem schwarzen Brustschild am Eingang zum Blumenkelch sitzen. Er war etwas kleiner als sie, behauptete seinen Platz ruhig und sah sie ernst, aber durchaus nicht unfreundlich an.

Maja begrüßte ihn höflich.

„Gehörte die Kugel Ihnen?“ fragte sie. Und als der Käfer nicht antwortete, fügte sie hinzu. „Es tut mir sehr leid, sie hinabgeworfen zu haben.“

„Meinen Sie den Tautropfen?“ fragte der Käfer und lächelte etwas überlegen. „Deswegen brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Ich hatte bereits getrunken, und meine Frau trinkt niemals Wasser, weil sie mit den Nieren zu tun hat. Was wollen Sie hier?“

„Was ist dies für eine herrliche Blume?“ sagte Maja, ohne auf seine Frage zu antworten. „Würden Sie so gütig sein, mich zu unterrichten, wie sie heißt?“

Sie erinnerte sich der Ratschläge Kassandras und war so höflich als möglich.

Der Käfer bewegte seinen blanken glänzenden Kopf im Rückenschild. Dies ließ sich leicht und angenehm bewerkstelligen, da er ganz prächtig hineinpaßte und lautlos hin und her glitt.

„Sie sind wohl erst von gestern?“ fragte er und lachte, nicht grade höflich, über Majas Unkenntnis. Überhaupt hatte er etwas, was Maja als unfein auffiel, die Bienen waren gebildeter und wußten sich besser zu benehmen. Aber gutmütig schien der Käfer doch zu sein, denn als er sah, wie Majas Wangen sich mit einer feinen Röte der Verlegenheit überzogen, wurde er nachsichtiger gegen ihre Unwissenheit.

„Es ist eine Rose,“ sagte er, „damit Sie es denn also nun wissen. Wir haben sie vor vier Tagen bezogen und sie ist inzwischen unter unsrer Pflege auf das prächtigste gediehen. Darf ich Sie bitten näher zu treten?“

Maja zögerte, aber sie überwand ihre Besorgnis und machte ein paar Schritte. Der Käfer drückte ein helles Blättchen beiseite, und sie betraten nebeneinander die schmalen Gemächer mit ihren hellroten, duftenden Wänden und ihrem gedämpften Licht.

„Sie haben es wirklich reizend“, sagte Maja, die ehrlich entzückt war. „Und dieser Duft hat etwas gradezu Betörendes.“

Dem Käfer machte es Freude, daß Maja Gefallen an seiner Wohnstätte fand.

„Man muß wissen, wo man sich aufhält“, sagte er und lächelte wohlwollend. „‚Sage mir, wo du umgehst, und ich werde dir sagen, wieviel du wert bist‘, sagt ein altes Sprichwort. Ist etwas Honig gefällig?“

„Ach,“ platzte Maja heraus, „das wäre mir wirklich sehr angenehm.“

Der Käfer nickte und verschwand hinter einer der Wände. Maja sah sich glücklich um. Sie schmiegte ihre Wange und ihre Händchen an die zarten rotleuchtenden Vorhänge, atmete den köstlichen Duft tief ein und war beseligt vor Freude, sich in einer so schönen Wohnung aufhalten zu dürfen. Es ist doch wirklich ein großer Genuß zu leben, dachte sie, und diese Behausung ist den dumpfen und überfüllten Etagen nicht zu vergleichen, in denen wir leben und arbeiten. Schon diese Stille ist ganz herrlich.

Da hörte sie den Käfer hinter den Wänden in ein lautes Schelten ausbrechen. Er brummte erregt und böse, und es war Maja, als packte er jemanden, den er unsanft vor sich herstieß. Dazwischen vernahm sie ein helles Stimmchen voll Angst und Verdruß und sie verstand die Worte:

„Natürlich, wenn ich allein bin, dürfen Sie sich herausnehmen, mir zu nahe zu treten; aber warten Sie, wie es Ihnen ergehn wird, wenn ich meine Gefährten hole. Sie sind ein Grobian. Gut, ich gehe. Aber Sie werden die Bezeichnung, die ich Ihnen gegeben habe, niemals vergessen.“

Maja war sehr erschrocken über die eindringliche Stimme des Fremden, die scharf und böse klang. Sie hörte dann noch, wie jemand sich eilig entfernte.

Der Käfer kam zurück und warf mürrisch ein Klümpchen Honig hin.

„Es ist ein Skandal,“ sagte er, „nirgends hat man Ruhe vor diesem Gesindel.“

Maja vergaß vor Hunger zu danken, sie nahm rasch einen Mund voll und kaute, während der Käfer sich den Schweiß von der Stirn trocknete und seinen oberen Brustring etwas lockerte, um leichter atmen zu können.

„Wer war denn da?“ fragte Maja mit vollem Mund.

„Essen Sie bitte erst den Mund leer, schlucken Sie erst herunter,“ sagte der Käfer, „so versteht man Sie nicht.“

Maja gehorchte, aber der erregte Hausbesitzer ließ ihr keine Zeit zu einer neuen Frage. Ärgerlich fuhr er heraus:

„Eine Ameise war es. Glauben denn diese Leute, man sparte und sorgte sich Stunde für Stunde nur für sie. Und so ohne Gruß und Anstand in die Vorratskammern zu dringen! Es empört mich. Wenn ich nicht wüßte, daß es bei diesen Tieren in der Tat Mangel an Lebensart ist, würde ich keinen Augenblick anstehen, sie als Diebe zu kennzeichnen.“ — Er besann sich plötzlich und wandte sich Maja zu:

„Sie verzeihen, ich vergaß mich Ihnen vorzustellen, ich heiße Peppi, von der Familie der Rosenkäfer.“

„Ich heiße Maja,“ sagte die kleine Biene schüchtern, „es freut mich sehr, Sie kennengelernt zu haben.“ Sie betrachtete den Käfer Peppi genau. Er verbeugte sich wiederholt und breitete dabei seine Fühler wie zwei kleine braune Fächer aus. Das gefiel Maja außerordentlich.

„Sie haben entzückende Fühler,“ sagte sie, „einfach süß …“

„Nun ja,“ meinte Peppi geschmeichelt, „darauf hält man. Wollen Sie auch die Rückseite sehn?“

„Wenn ich bitten darf“, sagte Maja.

Der Käfer drehte die gefächerten Fühler zur Seite und ließ einen Sonnenstrahl darüber gleiten.

„Famos, nicht?“ fragte er.

„Ich hätte so was nicht für möglich gehalten“, entgegnete Maja. „Meine eigenen Fühler sind sehr unscheinbar.“

„Nun ja,“ meinte Peppi, „jedem das Seine. Dafür haben Sie zweifellos schöne Augen und die goldene Färbung Ihres Körpers hat viel für sich.“

Die kleine Maja strahlte vor Glück. Es hatte ihr noch niemand gesagt, daß etwas an ihr schön sei. Sie wurde ganz übermütig vor Lebensfreude und nahm rasch noch ein Klümpchen Honig.

„Es ist eine ausgezeichnete Qualität“, sagte sie.

„Bitte nehmen Sie nur noch,“ sagte Peppi, etwas erstaunt über den Appetit seines Gastes, „es ist Rosenhonig erster Ernte. Man muß sich etwas in acht nehmen, damit man sich nicht den Magen verdirbt. Es ist auch noch Tau da, wenn Sie vielleicht Durst verspüren.“

„Vielen Dank“, sagte Maja. „Ich möchte nun fliegen, wenn Sie erlauben.“

Der Käfer lachte.

„Fliegen und immer fliegen,“ sagte er, „das liegt euch Bienen im Blut. Ich begreife diese ruhlose Art nicht recht. Es hat doch viel für sich, am Platze zu bleiben, finden Sie nicht?“

„Ach, ich fliege so gern“, sagte die kleine Maja.

Der Käfer öffnete ihr höflich den roten Vorhang.

„Ich will Sie noch hinausbegleiten. Ich führe Sie zu einem Aussichtsblatt, von dem Sie bequem abfliegen können.“

„O, danke,“ sagte Maja, „ich kann abfliegen, wo ich will.“

„Das haben Sie vor mir voraus,“ sagte Peppi, „ich habe etwas Mühe mit der Entfaltung der unteren Flügel.“

Er drückte ihr die Hand und schob den letzten Vorhang zur Seite.

„O Gott, der blaue Himmel,“ jubelte Maja, „leben Sie wohl.“

„Auf Wiedersehn“, sagte Peppi und blieb eine Weile auf dem höchsten Rosenblatt sitzen, um der kleinen Maja nachzusehn, die schnell in einer geraden Linie hoch in den Himmel hinaufflog, in den goldenen Sonnenschein und in die reine Morgenluft.

Dann seufzte er heimlich auf und zog sich nachdenklich wieder in den kühlen Rosenkelch zurück. Es wurde ihm etwas warm, obgleich es noch früh war. Er summte sein Morgenlied vor sich hin, das im roten Schein der Rosenblätter und im warmen Sonnenglanz erklang:

Alles steht in gold und grün
warm und sommerlich.
Nur solang die Rosen blühn,
ist es schön für mich.

Meine Heimat weiß ich nicht,
köstlich ist mir dies:
daß ich so im Rosenlicht
meinen Tag genieß’.

Wenig weiß ich von der Welt,
wo ich glücklich bin.
Wenn die Rose welkt und fällt,
muß auch ich dahin.

Und draußen zog langsam der strahlende Frühlingstag über die blühende Erde herauf.

Drittes Kapitel

Der Waldsee und seine Leute

Ach, dachte die kleine Maja im Dahinfliegen, nun habe ich vergessen, Peppi nach den Menschen zu fragen. Ein so erfahrener Mann, wie er, hätte mir sicherlich die beste Auskunft geben können. Aber vielleicht würde sie heute noch selbst einem Menschen begegnen. Voll Unternehmungslust und Frohsinn ließ sie ihre blanken Augen über das weite bunte Land schweifen, das sich unter ihr in seiner sommerlichen Pracht ausbreitete.

Sie kam an einem großen Garten vorüber, in dem es von tausend Farben leuchtete. Es begegneten ihr vielerlei Insekten, die ihr Wandergrüße zuriefen und frohe Fahrt und gute Ernte wünschten. Jedesmal wenn sie einer Biene begegnete, schlug anfänglich ihr Herz ein wenig, denn sie fühlte sich in ihrer Untätigkeit doch etwas schuldig und fürchtete sich, Bekannte zu treffen. Aber sie merkte bald, daß die Bienen sich weiter nicht um sie kümmerten.

Da sah sie plötzlich den blauen Himmel in unendlicher Tiefe unter sich leuchten. Sie dachte zuerst in großem Schrecken, sie wäre vielleicht viel zu hoch geflogen und hätte sich im Himmel verirrt, aber da sah sie, daß sich am Rande dieses unterirdischen Himmels die Bäume spiegelten, und sie erkannte zu ihrem Entzücken, daß es ein großes, stilles Wasserbecken war, das blau und klar im ruhigen Morgen dalag. Sie ließ sich voll Freude bis dicht auf die Oberfläche nieder und konnte nun sich selbst im Spiegelbild im Wasser fliegen sehen, sie sah ihre hellen Flügel wie reines flimmerndes Glas blinken, gewahrte, daß ihre Beinchen richtig am Körper lagen, wie Kassandra es sie gelehrt hatte, und sah die schöne Goldfarbe ihres Körpers im Wasser scheinen.

Es ist wirklich eine Wonne, so über eine Wasserfläche dahinzufliegen, jubelte sie. Sie erblickte große und kleine Fische, die in der hellen Flut dahinschwammen, oder ganz ruhig darin zu schweben schienen. Maja hütete sich wohl, ihnen zu nahe zu kommen, denn sie wußte, daß ihr vom Geschlecht der Fische Gefahr drohte.

Als sie am andern Ufer des Sees anlangte, lockte das warme Schilf sie und die riesengroßen Blätter der Seerosen, die wie grüne Teller auf dem Wasser lagen. Sie wählte eines der verborgensten Blätter, über dem die hohen blanken Schilfhalme sich in der Sonne wiegten, und das selbst beinahe ganz im Schatten lag. Nur ein paar runde Sonnenflecke lagen darauf, wie Goldmünzen.

„Herrlich,“ sagte die kleine Biene, „also wirklich ganz herrlich.“ Sie begann sich ein wenig zu säubern, indem sie mit beiden Armen hinter ihren Kopf griff und ihn etwas nach vorn zog, als ob sie ihn abreißen wollte. Aber sie hütete sich, zu fest zu ziehn, es handelte sich nur darum, den Staub zu entfernen. Dann strich sie mit den Hinterbeinchen über die Flügeldecken, so daß sie sich nach unten bogen und wundervoll blank wieder in ihre alte Lage zurückschnellten.

Da kam ein kleiner stahlblauer Brummer zu ihr, ließ sich neben ihr auf dem Blatt nieder und schaute sie erstaunt an.

„Was wollen Sie hier auf meinem Blatt?“ fragte er.

Maja erschrak.

„Man wird sich doch wohl einen Augenblick ausruhen dürfen“, sagte sie. Sie erinnerte sich, daß Kassandra ihr mitgeteilt hatte, daß das Volk der Bienen überall in der Insektenwelt in großem Ansehen stehe. Nun wollte sie einmal eine Probe machen, ob es ihr gelänge, sich in Respekt zu setzen. Aber ihr Herz klopfte doch etwas, weil sie sehr laut und entschieden geantwortet hatte.

Der Brummer erschrak in der Tat sichtlich, als er merkte, daß Maja nicht willens war, sich etwas vorschreiben zu lassen. Mit verdrossenem Summen schwang er sich auf einen Schilfhalm, der sich über das Blatt neigte, auf dem Maja saß, und sagte um vieles höflicher von oben herunter aus dem Sonnenschein:

„Sie sollten lieber einiges arbeiten, wie es sich für Sie gehört, aber wenn Sie der Ruhe bedürfen … immerhin. Ich werde hier warten.“

„Es sind doch wirklich Blätter genug da“, meinte Maja.

„Alles vermietet“, sagte er. „Man ist heutzutage froh, wenn man ein kleines Grundstück sein eigen nennt. Wäre mein Vorgänger nicht vor zwei Tagen vom Frosch gefangen worden, so hätte ich heute noch keine rechte Unterkunft. Immer bald hier, bald dort zu übernachten, hat viel gegen sich. Es hat halt nicht jeder ein so geordnetes Staatswesen, wie Sie es pflegen. Übrigens mein Name ist Hans Christoph, mit Verlaub mich Ihnen vorzustellen.“

Maja schwieg und dachte mit Schrecken darüber nach, wie furchtbar es sein müsse, in die Gewalt des Frosches zu geraten.

„Gibt es in diesem Gewässer viele Frösche?“ fragte sie den Brummer und setzte sich genau in die Mitte des Blattes, damit man sie vom Wasser aus nicht erblickte.

Der Brummer lachte.

„Geben Sie sich keine Mühe,“ spottete er, „der Frosch kann Sie von unten sehn, wenn die Sonne leuchtet, weil das Blatt dann durchscheint. Er sieht ganz genau, wie Sie auf meinem Blatt sitzen.“

Maja, die von der bösen Vorstellung befallen wurde, dicht unter ihrem Blatt säße vielleicht ein großer Frosch und schaute sie mit seinen vorquellenden, hungrigen Augen an, wollte rasch auffliegen, als etwas ganz Furchtbares geschah, worauf sie in der Tat in keiner Weise vorbereitet war. Anfangs konnte sie in der ersten Verwirrung nicht genau unterscheiden, was eigentlich vor sich ging, sie hörte nur ein helles, klirrendes Sausen über sich, das so klang, als schwirrte der Wind in welken Blättern; dazu hörte sie ein singendes Pfeifen, einen hellen zornigen Jagdruf, und ein feiner, durchsichtiger Schatten huschte über ihr Blatt. Und dann erkannte sie, und ihr Herz stand still vor Angst, daß eine große, schillernde Libelle sich des armen Hans Christophs bemächtigt hatte und den verzweifelt Schreienden in ihren großen, messerspitzen Fängen hielt. Sie ließ sich mit ihrer Beute auf dem Schilfhalm nieder, der sich unter ihrer Last etwas niederbeugte, so daß Maja die beiden über sich schweben sah und zugleich das Spiegelbild im klaren Wasser. Hans Christophs Geschrei zerriß ihr Herz. Ohne Besinnen rief sie laut:

„Lassen Sie sofort den Brummer los, wer immer Sie sein mögen. Sie haben nicht das geringste Recht, in so eigenmächtiger Weise in die Gewohnheiten anderer einzugreifen.“

Die Libelle ließ den Brummer aus ihren Fängen, hielt ihn aber sorgfältig mit den Armen fest und drehte den Kopf nach Maja um. Maja erschrak sehr über die großen ernsten Augen der Libelle und über die bösen Beißzangen, die sie hatte, aber das Glitzern ihrer Flügel und ihres Leibes entzückte sie. Es blitzte wie Wasser, Glas und Edelsteine. Nur die ungeheure Größe der Libelle entsetzte sie, sie begriff ihren Mut nicht mehr und begann auf das heftigste zu zittern.

Aber die Libelle sagte ganz freundlich:

„Kind, was ist denn mit Ihnen?“

„Lassen Sie ihn los,“ rief Maja und in ihre Augen kamen Tränen, „er heißt Hans Christoph …“

Die Libelle lächelte.

„Weshalb denn, Kleine?“ fragte sie und machte ein interessiertes Gesicht, das aber einen Ausdruck von großer Herablassung hatte.

Maja stotterte hilflos:

„Ach, er ist doch ein so netter, sauberer Herr und hat Ihnen, soviel ich weiß, nichts zuleide getan.“

Die Libelle sah Hans Christoph nachdenklich an:

„Ja, er ist ein lieber, kleiner Kerl“, antwortete sie zärtlich und biß ihm den Kopf ab.

Maja glaubte die Besinnung zu verlieren, so sehr erschütterte sie dieser Vorgang. Sie konnte lange kein Wort hervorbringen und mußte nun, voll Grauen, die krachenden und knuspernden Laute hören, unter denen der Körper des stahlblauen Hans Christoph über ihr zerlegt wurde.

„Stellen Sie sich doch nicht an,“ sagte die Libelle mit vollem Mund und kaute weiter, „Ihre Empfindsamkeit macht nur geringen Eindruck auf mich. Machen Sie es denn besser? Augenscheinlich sind Sie noch sehr jung und haben sich im eigenen Hause nur wenig umgesehn. Wenn im Sommer das Drohnenmorden in Ihrem Stock beginnt, empört sich die Umwelt nicht weniger, und ich meine, mit mehr Recht.“

Maja fragte: „Sind Sie fertig da oben?“ Sie konnte sich nicht entschließen hinaufzusehen.

„Ein Bein ist noch da“, sagte die Libelle.

„Schlucken Sie es bitte herunter, dann werde ich Ihnen antworten“, rief Maja, die genau wußte, weshalb die Drohnen im Sommer im Bienenstock getötet werden mußten, und die sich über die Dummheit der Libelle ärgerte. „Aber unterstehen Sie sich nicht, mir auch nur um einen Schritt näher zu treten. Ich würde mich nicht besinnen, unverzüglich von meinem Stachel Gebrauch zu machen.“

Die kleine Maja war wirklich sehr ärgerlich geworden. Zum erstenmal erwähnte sie ihren Stachel und zum erstenmal freute sie sich dieser Waffe.

Die Libelle machte böse Augen. Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und saß nun, etwas geduckt, da, schaute Maja lauernd an und sah aus wie ein Raubtier, das im Begriff ist, sich auf seine Beute zu stürzen. Aber die kleine Biene blieb nun ganz ruhig. Sie konnte nicht recht begreifen, woher ihr Mut kam, aber sie empfand keine Furcht mehr. Sie ließ ein ganz feines helles Summen hören, wie sie es einmal im Stock vom Wächter gehört hatte, als eine Wespe sich dem Flugloch näherte.

Die Libelle sagte drohend und langsam:

„Die Libellen leben in bestem Einvernehmen mit dem Volk der Bienen.“

„Sie tun auch gut daran“, sagte Maja rasch.

„Meinen Sie etwa, ich hätte Furcht vor Ihnen, ich — vor Ihnen?“ fragte die Libelle. Sie ließ mit einem Ruck den Schilfhalm los, der in seine alte Lage zurückschnellte, und sauste mit einem klirrenden, blitzenden Flügelschlag bis dicht auf die Oberfläche des Wassers nieder. Es sah ganz herrlich aus, wie sie sich im See spiegelte, man glaubte zwei Libellen zu sehn, und beide bewegten ihre gläsernen Flügel so rasch und fein, daß es aussah, als fließe ein heller Silberschein um sie her. Es sah so herrlich aus, daß die kleine Maja ihren ganzen Verdruß um den armen Hans Christoph und jede Gefahr vergaß. Sie klatschte in die Hände und rief ganz begeistert:

„Wie wunderschön. Wie wunderschön!“

„Meinen Sie mich?“ fragte die Libelle ganz erstaunt. Aber dann fügte sie rasch hinzu: „Ja, ich kann mich sehn lassen, das ist wahr. Sie hätten die Begeisterung erleben sollen, in die gestern einige Menschen gerieten, die mich am Bach sahn, wo sie sich hingelegt hatten.“

„Menschen?“ fragte Maja, „ach, Menschen haben Sie gesehn?“

„Natürlich,“ sagte die Libelle, „aber es wird Sie zweifellos auf das lebhafteste interessieren, wie ich heiße, mein Name ist Schnuck, von der Familie der Netzflügler, im besonderen der Libellen.“

„Ach, erzählen Sie von den Menschen“, bat Maja, nachdem sie ihren Namen genannt hatte.

Die Libelle schien versöhnt. Sie setzte sich neben Maja auf das Blatt, und die kleine Biene ließ es zu. Sie wußte, daß Schnuck sich hüten würde, ihr zu nahe zu treten.

„Haben die Menschen einen Stachel?“ fragte Maja.

„Mein Gott,“ sagte Schnuck, „was sollten sie wohl damit anfangen. Nein, sie haben schlimmere Waffen gegen uns und sie sind uns sehr gefährlich. Es gibt niemand, der nicht Angst vor ihnen hätte, besonders vor den kleinen, bei denen man die beiden Beine deutlich unterscheiden kann. Diese heißen Knaben.“

„Stellen sie Ihnen nach?“ fragte Maja, ganz atemlos vor Erregung.

„Ja, ist Ihnen denn das nicht verständlich?“ fragte Schnuck mit einem Blick über ihre Flügel. „Ich bin nur selten einem Menschen begegnet, der nicht den Versuch gemacht hätte, mich zu greifen.“

„Weshalb denn nur?“ fragte Maja ängstlich.

„Wir haben eben etwas sehr Anziehendes“, sagte Schnuck mit einem bescheidenen Lächeln und sah schräg vor sich nieder. „Einen andern Grund weiß ich nicht. Es ist vorgekommen, daß Leute unserer Familie, die sich haben greifen lassen, die furchtbarsten Qualen und zuletzt den Tod haben erleiden müssen.“

„Sind sie aufgefressen worden?“

„Nein, nein,“ sagte Schnuck beruhigend, „das grade nicht. Soviel bekannt ist, nährt sich der Mensch nicht von Libellen. Aber im Menschen leben zuweilen Mordgelüste, die wohl ewig unaufgeklärt bleiben. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, aber in der Tat sind Fälle vorgekommen, in denen sogenannte Knabenmenschen Libellen gefangen haben und ihnen aus purem Vergnügen die Flügel oder die Beine ausgerissen haben. Sie zweifeln?“

„Natürlich zweifle ich daran“, rief Maja entrüstet.

Schnuck zuckte die glitzernden Achseln, ihr Gesicht sah ganz alt aus vor Erkenntnis.

„Ach, wenn man einmal offen sein dürfte,“ sagte sie, ganz blaß vor Traurigkeit, „ich hatte einen Bruder, er berechtigte zu den besten Hoffnungen, nur war er etwas leichtsinnig und leider sehr neugierig. Er fiel in die Hände eines Knaben, der ihm unversehens ein Netz überwarf, das an einer langen Stange befestigt war. Sagen Sie selbst, wer denkt an so was?“

„Nein,“ antwortete die kleine Maja, „an so etwas habe ich niemals gedacht.“

Die Libelle sah sie an.

„Es ist ihm dann ein schwarzes Seil um die Brust gebunden worden, mitten zwischen seinen Flügeln, so daß er wohl auffliegen, aber niemals entrinnen konnte. Jedesmal, wenn mein armer Bruder glaubte, seine Freiheit zurückgewonnen zu haben, sah er sich auf die grausamste Weise an jenem bereits erwähnten Seil wieder in das Bereich des Knaben zurückgezerrt.“

Maja schüttelte nur den Kopf.

„Man darf es sich gar nicht vorstellen“, flüsterte sie traurig.

„Wenn ich einmal einen Tag nicht daran gedacht habe, so träume ich sicher davon“, fuhr Schnuck fort. „Es kam damals sehr viel zusammen. Schließlich starb mein Bruder.“ Schnuck seufzte tief auf.

„Woran starb er?“ fragte Maja in aufrichtiger Teilnahme.

Schnuck konnte nicht gleich antworten, große Tränen brachen aus ihren Augen und liefen langsam über die Wangen:

„Er ist in die Tasche gesteckt worden,“ schluchzte sie, „das hält niemand aus …“

„Was ist das?“ fragte Maja ängstlich, die kaum in der Lage war, so viel Neues und Böses auf einmal zu verstehn und zu bewältigen.

„Die Tasche“, erklärte ihr Schnuck, „ist eine Vorratskammer, die die Menschen in ihrem äußeren Fell haben. Aber was glauben Sie, das sonst noch darin war? O, in welch furchtbarer Gesellschaft mußte mein armer Bruder seine letzten Atemzüge tun. Sie werden niemals darauf kommen!“

„Nein,“ sagte Maja mit bebendem Atem, „ich werde es nicht … vielleicht Honig?“

„Nein, nein“, meinte Schnuck, sehr wichtig und sehr traurig zugleich. „Honig werden Sie selten in den Taschen der Menschen finden. Ich will Ihnen sagen, was darin war: es war ein Frosch, ein Taschenschwert und eine gelbe Rübe. Nun?“

„Schaurig,“ flüsterte Maja, „was ist ein Taschenschwert?“

„Es ist gewissermaßen der künstliche Stachel des Menschen. Da ihm die Natur diese Waffe versagt hat, sucht er sie nachzubilden. Der Frosch war gottlob bereits im Begriff, das Zeitliche zu segnen. Er hatte ein Auge verloren, ein Bein gebrochen und sein Unterkiefer war ausgerenkt. Aber sobald mein Bruder in der Tasche erschien, zischte der Frosch aus seinem schiefen Maul:

‚Wenn ich genesen bin, werde ich Sie unverzüglich verschlingen.‘ Dabei schielte er mit dem übriggebliebenen Auge auf den bedauernswerten Ankömmling. Dieser Blick muß in der Dämmerung des Gefängnisses auf das furchtbarste gewirkt haben. Mein Bruder hat die Besinnung verloren, als er gleich darauf durch eine unerwartete Erschütterung so gegen den Frosch gepreßt wurde, daß seine Flügel an dem kalten nassen Leib des Sterbenden kleben blieben. O, man kann keine Worte finden, um dies Elend in der treffendsten Weise zu kennzeichnen.“

„Woher wissen Sie das alles?“ stotterte Maja aufs äußerste entsetzt.

„Später warf der Knabe meinen Bruder und den Frosch fort, als er Hunger bekam und die Rübe suchte, um sie zu verzehren. Ich fand sie nebeneinander im Gras liegen, angelockt durch die Hilferufe meines Bruders. Aber ich kam nur noch zeitig genug, um alles zu hören und ihm die Augen zuzudrücken. Er legte seinen Arm um meinen Hals und küßte mich zum Abschied. Dann starb er tapfer und ohne Klage, als ein kleiner Held. Als das letzte Beben seiner zerknitterten Flügel aufgehört hatte, legte ich Eichblätter über ihn und suchte ein erblühtes Männertreu, dessen blaue Blume zu seiner Ehre auf dem Hügel verwelken sollte. ‚Leb wohl,‘ rief ich, ‚schlaf gut, mein kleiner Bruder‘, und flog in den stillen Abend hinaus, den beiden roten Sonnen entgegen, denn man sah die Sonne zweimal, am Abendhimmel und im See. So traurig und feierlich ist noch niemandem zumut gewesen. — Ist Ihnen auch schon etwas Trauriges passiert? Dann erzählen Sie es mir vielleicht ein andermal.“

„Nein,“ sagte Maja, „ich bin eigentlich bis jetzt immer froh gewesen.“

„Da können Sie Gott danken“, meinte Schnuck, etwas enttäuscht.

Maja fragte nach dem Frosch.

„Ach so, der“, sagte Schnuck. „Er erlitt voraussichtlich den Tod, den er verdiente. Wie konnte er nur die Herzenshärtigkeit aufbringen, einen Sterbenden zu ängstigen? Er versuchte damals zu entkommen, aber da sein eines Bein sowohl als auch sein eines Auge völlig außer Tätigkeit gesetzt waren, hüpfte er ununterbrochen im Kreise herum. Es sah außerordentlich komisch aus. ‚So wird der Storch Sie bald gefunden haben‘, rief ich ihm zu, bevor ich davonflog.“

„Der arme Frosch“, sagte die kleine Maja.

„Nun, ich muß doch bitten,“ meinte die Libelle nicht ohne Entrüstung, „Sie gehn zu weit. Einen Frosch bedauern, heißt sich in den eigenen Flügel schneiden. Sie sind eine gewissenlose Person, wie mir scheint.“

„Das kann ja sein,“ antwortete Maja, „aber es wird mir sehr schwer, jemanden leiden zu sehn.“

„O,“ tröstete sie Schnuck, „das liegt an Ihrer Jugend, Sie werden es lernen, nur Mut, meine Freundin. Aber ich muß nun fort in die Sonne. Es ist hier reichlich kühl. Leben Sie wohl!“

Es klirrte leise, und tausend helle Farben blitzten auf, blasse, liebliche Farben, wie rinnendes Wasser sie hat und klare Edelsteine. Schnuck schwang sich durch die grünen Schilfhalme bis auf die Oberfläche des Wassers, und Maja hörte sie in der Morgensonne singen. Sie lauschte dem feinen Gesang, der etwas von der schwermütigen Süßigkeit eines Volksliedes hatte und das Herz der kleinen Maja fröhlich stimmte und traurig zugleich. Es klang zu ihr herüber:

Lieblich ist der stille Fluß,
wenn der Morgensonne Gruß
seine Flut getroffen.
Wo der grüne Schilfhalm weht
und die Wasserrose steht,
weiß und gelb und offen.

Warmer Duft und Wind und Flut,
auf den Flügeln Sonnenglut
und im Herzen Freude.
Ach, das Leben ist nicht lang,
goldner Sommer, habe Dank,
herrlich ist es heute.

„Horch, das Lied der Libelle erschallt“, rief ein weißer Schmetterling seiner Freundin zu. Sie schaukelten sich dicht an Maja vorüber durch das strahlende Blau des schönen Tags. Da hob auch die kleine Biene ihre Flügel, und mit leisem Summen begrüßte sie den silbernen See zum Abschied und flog landeinwärts davon.

Viertes Kapitel

Iffi und Kurt

Als die kleine Maja am anderen Morgen im Kelch einer blauen Glockenblume erwachte, hörte sie, daß die Luft von einem feinen leisen Rauschen erfüllt war, und sie spürte, daß die Blume sich bewegte, als bekäme sie heimlich kleine Stöße. Durch ihren geöffneten Kelch zog ein feuchter Geruch von Gras und Erde, und es war sehr kühl.

Maja nahm ängstlich ein wenig Blütenstaub von den gelben Staubgefäßen der Blume, machte dann sorgfältig Morgentoilette und wagte sich vorsichtig Schritt für Schritt bis an den äußersten Rand des hängenden Kelches. Da sah sie, daß es regnete. Ein feiner kühler Regen ging mit leisem Rauschen nieder und bedeckte alles umher mit Millionen heller Silberperlen. Sie lagen auf den Blättern und Blumen, rollten im Gras die schmalen grünen Wege der Halme nieder und erfrischten den braunen Erdboden.

Maja sah mit großem Erstaunen und voll tiefer Verwunderung diese Veränderung der Welt, es war der erste Regen, den sie in ihrem jungen Dasein erlebte. Aber obgleich es ihr wohl gefiel und sie beglückte, stellte sich doch eine leichte Besorgnis bei ihr ein, denn sie erinnerte sich der Warnung Kassandras, niemals im Regen auszufliegen. Sie begriff, daß es schwer sein mußte, die Flügel im Tropfenfall zu bewegen, auch tat ihr die Kälte weh, und sie vermißte den ruhigen goldenen Sonnenschein, der die ganze Erde heiter und sorglos stimmte.

Es mußte noch sehr früh sein, denn das Leben im Gras unter ihr nahm erst seinen Anfang. Unter ihrer blauen Glocke war sie wohlgeborgen und konnte den erwachenden Verkehr unter sich prächtig beobachten. Darüber vergaß sie für eine Weile ihren Kummer und das Heimweh, das sich in ihrem Herzen einstellte. Es war gar zu unterhaltend, so von einem sicheren Versteck aus, von oben her, auf das Leben und Treiben der Grasbewohner herabzuschaun. Aber allmählich zog es ihre Gedanken doch nach ihrer verlassenen Heimat, nach dem Schutz und der starken Gemeinschaft des Bienenstocks. Dort saßen sie nun beieinander, des Ruhetags froh, bauten vielleicht hier und da ein wenig an den Zellen, oder fütterten die kleinen Maden. Aber im allgemeinen war es recht ruhig und beschaulich im Stock an Regentagen. Nur zuweilen flogen Kundschafter aus, sahen nach dem Stand des Wetters und erforschten, von welcher Seite der Wind kam. Die Königin ging im Reiche umher, von Etage zu Etage, prüfte alles, lobte oder tadelte, legte wohl hin und wieder ein Ei und beglückte alle durch ihre königliche Gegenwart. Wie froh machte es, einen Blick von ihr aufzufangen oder ein huldvolles Wort. Es kam vor, daß sie den jüngeren Bienen, die ihre ersten Leistungen hinter sich hatten, freundlich über die Köpfchen strich oder sich nach ihren Erlebnissen erkundigte.

Ach, wie glücklich machte es, sich dazu rechnen zu dürfen, sich von allen geachtet zu wissen und den starken Schutz der Gemeinschaft genießen zu können. Hier an ihrem einsamen und ausgesetzten Platz war sie gefährdet und fror. Und wenn der Regen anhielt, was sollte sie dann beginnen und wodurch sollte sie sich ernähren? Honigsaft war kaum in der Glockenblume zu finden, und der Blütenstaub würde auch nicht allzulange vorhalten. Sie empfand zum ersten Male, wie notwendig zu allem Wanderleben und zum Vagabundentum der Sonnenschein war. Ohne den Sonnenschein wäre wohl niemand leichtsinnig, dachte sie.

Aber, wenn sie sich nur des Sonnenscheins erinnerte, erfüllte es sie schon wieder mit Freude und heimlichem Stolz, daß sie so mutig gewesen war, ihr Leben auf eigene Faust zu beginnen. Was hatte sie in der kurzen Zeit ihres Wanderns nicht schon alles gesehn und erfahren! Davon wußten die andern wohl ihr Leben lang nur wenig. Erfahrung ist doch das höchste Lebensgut und ihrer Opfer wert, dachte sie.

Unten zog ein Trupp Wanderameisen im Gras vorüber. Sie schritten singend durch den kühlen Graswald und schienen Eile zu haben. Ihr frisches Morgenlied erklang im Marschtakt und stimmte das Herz der kleinen Maja wehmütig und nachdenklich.

Bald ist unsre kurze Frist
auf der Erde aus.
Was ein rechter Räuber ist,
macht sich nichts daraus.

Sie waren außerordentlich gut bewaffnet und sahen keck und gefährlich aus. Ihr Lied verklang unter den Huflattichblättern. Aber dort schienen sie mit ihrem Gesang etwas Rechtes angerichtet zu haben, denn es erklang nun eine rauhe heisere Stimme, und die kleinen Blättchen eines jungen Löwenzahns wurden energisch auseinandergedrängt. Maja sah einen großen blauen Käfer hervordringen, der wie eine Halbkugel aus glänzendem, dunklem Metall aussah und bald bläulich, bald grünlich, zuweilen auch ganz schwarz schimmerte. Er war wohl zwei- oder dreimal so groß wie sie. Sein harter Panzer schien ihr von unzerstörbarer Festigkeit, und seine tiefe Stimme hatte etwas gradezu Einschüchterndes. Er schien durch den Gesang der Soldaten erwacht und bei sehr schlechter Laune zu sein. Sein Haar war noch nicht geordnet, und er rieb sich den Schlaf aus den blauen listigen Äuglein.

„Ich komme,“ schrie er, „das genügt für alle, um Platz zu machen.“

Gottlob stehe ich ihm nicht im Wege, dachte Maja, die sich in ihrem hohen schwebenden Versteck sicher fühlte. Aber ihr Herz klopfte doch ein wenig, und sie zog sich leise einen Schritt weiter in die Blütenglocke zurück.

Der Käfer bewegte sich schwerfällig und schaukelnd durch das nasse Gras. Eine sehr elegante Erscheinung war er eben nicht. Bei einem welken Blatt, grade unter ihrer Blüte, machte er halt, schob es zur Seite und trat etwas zurück. Da erkannte Maja darunter den Eingang zu einer Höhle.

Nein, was es nicht alles gibt, dachte sie neugierig, davon habe ich mir keine Vorstellung gemacht. Man kann gar nicht lange genug leben, um alles zu erfahren, was auf der Welt möglich ist. Sie verhielt sich ganz still. Nur der Regen rieselte leise nieder. Da hörte sie den Käfer in die Höhle hineinrufen:

„Wenn Sie mit mir auf die Jagd wollen, müssen Sie sich schon entschließen aufzustehn. Es ist heller Tag.“ Weil er zuerst erwacht war, fühlte er sich so überlegen, daß es ihm schwer wurde, freundlich zu sein.

Es dauerte eine Weile, bis Antwort kam, dann hörte Maja eine dünne zirpende Stimme aus dem Loch schallen:

„Um Gottes willen, machen Sie oben zu, es regnet herein.“

Der Käfer gehorchte, neigte abwartend den Kopf etwas zur Seite und schielte durch die Spalte.

„Eilen Sie sich, wenn ich bitten darf“, sagte er mürrisch.

Maja war sehr gespannt, wer herauskommen würde. Sie kroch so weit vor, daß ein großer Regentropfen auf ihre Schulter fiel. Sie erschrak sehr und trocknete sich ab. Unten hob sich das welke Blatt, und langsam kroch ein braunes Tier hervor, das ihr im hohen Maße absonderlich vorkam. Es hatte einen plumpen Leib und einen ganz ungewöhnlich dicken Kopf mit kleinen aufrechten Fühlhörnern. Die Beinchen waren sehr dünn und bewegten sich langsam, und der Ausdruck des Gesichts war sorgenvoll.

„Guten Morgen, meine Iffi“, sagte der Käfer und wurde vor Höflichkeit ganz schlank. „Wie haben Sie geschlafen?“ und dann fügte er hinzu: „mein alles!“

Iffi nahm seine Hand etwas gleichgültig.

„Es geht nicht, Kurt,“ sagte sie, „ich kann nicht mit. Die Leute reden zu viel.“

Der arme Käfer schien wirklich sehr zu erschrecken.

„Ich verstehe wohl nicht richtig,“ stammelte er, „sollte das junge Glück unserer Freundschaft an so gleichgültigen Dingen scheitern? Bedenken Sie doch, Iffi, was kümmern die Leute Sie? Sie haben Ihr Loch, können hineinkriechen, wenn Sie wollen, und wenn Sie tief genug steigen, hören Sie nichts.“

Iffi lächelte wehmütig und überlegen.

„Kurt, davon verstehn Sie nichts. Ich habe da meine eigene Anschauung. Übrigens kommt noch etwas hinzu: Sie haben meine Unkenntnis in sehr wenig feiner Weise ausgebeutet, Sie haben sich für einen Rosenkäfer ausgegeben, und gestern sagte mir die Wegschnecke, Sie seien ein Mistkäfer. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Die Wegschnecke hat Sie bei einer Tätigkeit beobachtet, die ich hier nicht weiter kennzeichnen will; Sie werden verstehen, daß ich mich zurückziehe.“

Als Kurt sich von seinem Schreck erholt hatte, wurde er ärgerlich:

„Nein, das verstehe ich nicht,“ rief er heftig, „ich wünsche um meiner selbst willen geliebt zu sein, und nicht um meiner Beschäftigung willen. Wie können Sie einen Mann danach beurteilen, wo er sich aufhält!“

„Wenn es nicht grade der Mist wäre, würde ich ein Auge zudrücken“, sagte Iffi zurückhaltend. „Sie müssen auch bedenken, daß eine junge Witwe, deren Gatte erst vor drei Tagen von der Spitzmaus gefressen worden ist, sich die denkbar größte Zurückhaltung auferlegen muß. Also — leben Sie wohl.“

Und Iffi war plötzlich mit einem Ruck in ihrer Höhle verschwunden, so rasch, daß es erschien, als habe ein Windstoß sie davongerissen. Maja hatte nicht für möglich gehalten, daß jemand so rasch in einem Loch verschwinden könnte. Jetzt war Iffi fort, und der Käfer starrte mit verblüfftem Gesicht in die leere dunkle Öffnung und sah so dumm dabei aus, daß Maja lachen mußte.

Endlich besann er sich und begann betrübt und zornig seinen kleinen rundlichen Kopf zu schütteln, und die Fühler hingen traurig nieder, wie zwei verregnete Fächer.

„Für Charakter und gediegene Lebensführung hat heute niemand mehr Sinn“, seufzte er. „Iffi ist herzlos, ich habe nicht gewagt, es mir einzugestehn, aber es ist der Fall. Aber wenn sie in der Tat nicht das Herz hat, meine Freundin zu sein, so sollte sie wenigstens den Verstand dazu haben.“

Maja sah, wie Tränen in seine Augen traten, und ihr Herz wurde von Mitleid ergriffen.

Aber plötzlich kam Bewegung in Kurt. Er wischte die Tränen aus den Augen und trat vorsichtig hinter einen Erdhaufen, den seine Freundin wahrscheinlich aus ihrer Wohnung geschaufelt hatte, und Maja sah einen kleinen rötlichen Regenwurm durch die Gräser kommen. Er hatte eine sehr ungewöhnliche Art der Fortbewegung, bald machte er sich lang und dünn, dann wieder kurz und dick, und seine rote Körperspitze bestand aus lauter zarten Ringen, die sich lautlos verschoben und vorantasteten. Sie erschrak sehr, als Kurt plötzlich einen Schritt aus seinem Versteck hervor machte, den Wurm ergriff und ihn in zwei Hälften zerbiß. Er begann gelassen die eine Hälfte zu verzehren und kümmerte sich wenig um die verzweifelten Windungen, die die beiden Wurmhälften am Boden und in seinen Armen ausführten. Es war ein ganz kleiner Wurm.

„Nur Geduld,“ sagte Kurt, „gleich ist es vorüber.“

Aber während er kaute, schien er wieder an Iffi zu denken, die er für alle Zeit verloren hatte, und große Tränen rollten über seine Backen.

Die kleine Maja in ihrem Versteck bedauerte ihn herzlich. Es gibt doch sehr viel Trauriges in der Welt, dachte sie. Da sah sie, daß die eine Wurmhälfte, die Kurt in seiner Bekümmernis zur Seite gelegt hatte, sich eilig entfernte.

„Nein, so was!“ rief sie, und sie tat es vor Schrecken so laut, daß Kurt sich verwundert umschaute.

„Machen Sie Platz!“ rief er, als er es hörte.

„Aber ich sitze Ihnen ja gar nicht im Weg“, antwortete Maja.

„Wo sitzen Sie denn?“ fragte er, „Sie müssen doch irgendwo sitzen.“

„Hier oben,“ rief Maja, „über Ihnen in der Blume.“

„Ich will es Ihnen glauben,“ sagte Kurt, „aber ich bin kein Grashüpfer, ich kann mich unmöglich so weit nach oben umdrehn, daß ich Sie sehe. Weshalb haben Sie denn geschrien?“

„Die eine Hälfte vom Wurm läuft fort“, rief Maja.

„Ja, ja,“ sagte Kurt und sah dem halben Würmchen nach, „diese Tiere sind sehr regsam. Ich habe keinen Appetit mehr.“ Damit warf er den Rest des Wurms fort, den er noch in seinen Händen gehalten hatte, und dieser übriggebliebene Teil entfernte sich nach der andern Seite.

Maja wurde ganz verwirrt, aber Kurt schien mit dieser Eigenart des Wurms vertraut zu sein.

„Sie müssen nicht denken, daß ich immer Wurm esse,“ sagte er, „aber es finden sich nicht überall Rosen.“

„Sagen Sie doch wenigstens dem Kleinen, wo seine andere Hälfte hingelaufen ist“, antwortete Maja in großer Erregung.

Kurt schüttelte ernst den Kopf. „Was das Schicksal trennt, soll man nicht wieder zusammenfügen“, meinte er. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Maja, vom Volk der Bienen.“

„Das ist mir angenehm,“ sagte Kurt, „ich habe nichts gegen die Bienen. Weshalb sitzen Sie denn da herum? Das tun doch sonst Bienen nicht. Sitzen Sie da schon lange?“

„Ich habe hier geschlafen.“

„So“, machte Kurt mißtrauisch. „Hoffentlich haben Sie einen tiefen und gesunden Schlaf. Sie sind wohl eben erst erwacht?“

Maja bestätigte es, denn sie merkte, daß Kurt nicht gerne gesehn hätte, wenn sein Gespräch mit der Grille Iffi belauscht worden wäre, und sie wollte ihn nicht noch einmal betrüben.

Kurt lief hin und her und versuchte hinaufzuschaun. „Warten Sie,“ sagte er, „wenn ich mich etwas an jenem Grashalm aufrichte, werde ich Sie sehn können, und Sie können mir in die Augen schaun. Das wollen Sie doch jedenfalls gern.“

„Doch,“ sagte Maja, „das wäre mir sehr angenehm.“

Kurt fand einen geeigneten Halm, es war der Stiel einer Butterblume, und da die Blüte sich etwas zur Seite neigte, konnte Maja ihn ansehn, als er sich nun auf die Hinterbeinchen stellte und zu ihr emporschaute. Sie fand, daß er ein freundliches und liebes Gesicht hatte; ganz jung schien er nicht mehr zu sein; und er war etwas voll in den Backen. Nun verbeugte er sich, so daß die Blume ein wenig schaukelte, und stellte sich vor:

„Kurt, von der Familie der Rosenkäfer.“

Die kleine Maja mußte heimlich lachen, denn sie wußte nur zu gut, daß Kurt ein Mistkäfer war, aber da sie ihn nicht kränken wollte, sagte sie nichts darüber.

„Macht Ihnen der Regen nichts aus?“ fragte Maja.

„O nein, das bin ich von den Rosen her gewohnt, da regnet es meistens.“

Maja dachte: ein wenig muß ich ihn doch für seine dreisten Lügen strafen, er ist doch ein recht eitler Geselle.

„Kurt,“ sagte sie und lächelte vorsichtig, „was ist das da eigentlich für ein Loch unter dem Blatt?“

Kurt erschrak.

„Ein Loch?“ fragte er, „sprechen Sie von irgendeinem Loch? Es gibt sehr viele Löcher, es wird so ein Loch sein, irgendsoeins. Sie machen sich keine Vorstellung, wie viele Erdlöcher es gibt.“

Aber in der heimlichen Bestürzung, in die er geraten war, ereignete sich etwas ganz Furchtbares. Kurt hatte in seinem Eifer und in seinem Bemühen, sich möglichst gleichgültig zu stellen, das Übergewicht verloren. Maja hörte ihn verzweifelt aufschreien und gleich darauf sah sie ihn auf dem Rücken liegen und mit Armen und Beinen hilflos und kläglich in der Luft zappeln.

„Es ist aus mit mir!“ schrie er, „ich bin nicht in der Lage, mich wieder aufzurichten. Ich werde sterben müssen. Ein bejammernswerteres Geschick ist nie vorgekommen.“

Er klagte so laut, daß er Majas Trostworte nicht verstand. Dabei versuchte er mit seinen Füßen den Boden zu gewinnen, aber jedesmal, wenn er sich festzuhalten glaubte, gaben die kleinen Erdballen nach, die er mühsam ergriffen hatte, und er fiel wieder auf seinen hohen, runden Rücken zurück. Es war wirklich ein außerordentlich trostloser Anblick, und die kleine Maja hatte ehrlich Angst um ihn, zumal er schon ganz bleich im Gesicht war und sein Geschrei in der Tat herzzerreißend klang.

„Ich halte diese Lage nicht aus,“ rief er, „schauen Sie wenigstens fort. Quälen Sie nicht einen Sterbenden durch zudringliche Blicke. Ach wenn ich wenigstens einen der Grashalme erreichen könnte, oder den Stiel der Butterblume. Wer kann sich an der Luft festhalten? Das kann niemand.“

Das Herz der kleinen Maja zitterte vor Erbarmen.

„Warten Sie,“ rief sie, „ich will versuchen Sie aufzurichten. Es muß doch gehn, wenn ich mich anstrenge. Oder Kurt, lieber Kurt, schreien Sie doch nicht so, hören Sie mich an: Wenn ich einen kleinen Grashalm niederbiege und reiche Ihnen das äußerste Ende, würden Sie sich dann helfen können?“

Kurt jammerte nur und verstand sie nicht, er war vor Todesangst ganz von Sinnen. Da flog die kleine Maja trotz des rieselnden Regens aus ihrem Versteck nieder, suchte einen schmalen grünen Grashalm, der in Kurts Nähe wuchs, und klammerte sich an der äußersten dünnen Spitze fest. Sie jubelte vor Freude, als der Halm sich unter ihrer Last so niederbog, daß er grade quer über den zappelnden Kurt sank.

„Halten Sie sich fest“, schrie Maja.

Kurt fühlte etwas über seinem Gesicht und griff hastig zu, erst mit einer Hand, dann mit beiden und endlich auch mit den Beinchen, die prächtige scharfe Krallen hatten, jedes zwei. Langsam zog er sich immer weiter daran hin, bis er die Wurzel des Halms erreicht hatte, und dort, wo er stärker und dicker war, konnte er sich aufrichten.

Er atmete tief auf.

„Mein Gott“, sagte er. „Das war ganz schrecklich. Ohne meine Geistesgegenwart wäre ich zweifellos ein Opfer Ihrer Geschwätzigkeit geworden.“

„Geht es Ihnen besser?“ fragte die kleine Maja.

Kurt hielt seine Stirn.

„Danke, danke, wenn dieses Schwindelgefühl weicht, werde ich Ihnen genaue Auskunft geben.“

Aber Maja erfuhr die Antwort auf ihre Frage nicht mehr, denn es kam eine Grasmücke durch die Halme geflattert, die auf der Jagd nach Insekten war. Die kleine Biene drückte sich fest an den Boden und verhielt sich ganz still, bis der Vogel vorüber war. Als sie sich später nach Kurt umsah, war er verschwunden, und da machte auch sie sich auf und flog davon, denn es hatte aufgehört zu regnen, und der Tag war hell und warm.

Fünftes Kapitel

Der Grashüpfer

Das war einmal ein Tag! Morgens ganz früh hatte es getaut, dann war die Sonne über dem Wald aufgegangen und hatte ihre Strahlen schräg über den grünen Graswald geschickt, so daß ein Glitzern und Funkeln begann, daß man vor Seligkeit und Entzücken über einen Anblick von solcher Pracht nicht wußte, was man sagen oder tun sollte.

Die kleine Maja hatte schon gleich beim Erwachen lauter helle Jubelrufe um sich her vernommen. Teils kamen sie hoch aus den Bäumen von den gefürchteten Vögeln, deren Stimmen doch so lieblich erklingen konnten, oder aus der Luft von vorüberfliegenden Insekten oder aus Büschen und Gras von Käfern, Schmetterlingen und kleinen und großen Fliegen.

Maja hatte es sich in einem Baumloch recht behaglich eingerichtet. Es war sicher und trocken und blieb auch nachts recht lange warm, da den Tag über die Sonne auf den Eingang schien. Zwar hatte sie einmal in aller Frühe den Specht am Stamm ihres Baums klopfen hören und sich schleunigst davon gemacht. Denn den Specht klopfen zu hören, das ist für ein kleines Insekt, das sich in der Baumrinde verborgen hält, so schlimm, als wenn unsereins nachts die Geräusche eines Einbrechers hört, der die Fensterläden aufbricht. Aber in der Nacht war sie sicher, dann suchte niemand sie in ihrem hohen Versteck.

In einem zurückliegenden Spältchen, in dem es dunkel und kühl war, hatte sie sich ein kleines Honiglager angelegt, um für Regentage mit Nahrung versorgt zu sein; und den Eingang zu ihrer Waldburg hatte sie mit Wachs ein wenig zugeklebt, so daß er nicht größer als eben nötig war, um bequem hineinschlüpfen zu können.

Und mit einem hellen Jubel voll Lebensfreude schwang sich die kleine Maja an diesem Morgen in den Sonnenschein hinaus, um zu erfahren, was dieser neue schöne Tag ihr bringen würde.

Sie segelte gradaus durch das goldene Licht der Luft, so daß sie wie ein kleines rasches Pünktchen aussah, das der Wind dahintrieb.

„Heute werde ich einem Menschen begegnen,“ rief sie, „an solchen Tagen sind sicher auch die Menschen unterwegs, um sich in der hellen Natur zu erfreuen.“ Es waren ihr noch niemals so viele Insekten begegnet, es war ein Kommen und Treiben, ein Summen, Lachen und Jubeln in der Luft, daß man unwillkürlich mit einstimmen mußte.

Die kleine Maja ließ sich endlich in einem Graswald nieder, in dem vielerlei Blumen und Pflanzen wuchsen. Die höchsten waren die weißlichen Blütenbüschel der Schafgarbe und Mohnblumen, die knallrot und leuchtend eine große Anziehungskraft ausübten. Als Maja ein wenig Honig aus einer Akeleiblume genommen hatte und eben im Begriff war, weiterzufliegen, begegnete ihr auf einem Grashalm, der sich zu ihrer Blume hinüberbog, ein ganz seltsamer Geselle. Anfangs erschrak sie sehr, weil sie nicht für möglich gehalten hatte, daß solch ein grünes hageres Ungetüm vorkommen könnte, aber dann wurde doch ihr ganzes Interesse in so hohem Maße wach, daß sie wie angewurzelt sitzenblieb und den langbeinigen Fremdling anstarrte. Es sah aus, als habe er Hörner, aber es war nur seine seltsam vorgerückte Stirn, die es so erscheinen ließ. Zwei unendlich lange, fadendünne Fühler waren daran, er erschien sehr schlank und hatte zierliche Vorderbeinchen und ganz dünne unauffällige Flügelchen, mit denen sich nach Majas Meinung nicht viel anfangen ließ. Das Merkwürdigste aber waren seine zwei großen, hohen Hinterbeine, die ihn wie zwei riesige geknickte Stelzen weit überragten. Er war über und über grün, und seine listigen Augen hatten etwas Freches und Erstauntes zugleich, aber man konnte wohl sagen, daß sie nicht boshaft, sondern viel eher gutmütig waren.

„Nun, Mamsell,“ sagte er zu Maja, offenbar durch ihren verwunderten Gesichtsausdruck geärgert, „Sie haben wohl noch keinen Grashüpfer gesehn? Oder legen Sie Eier?“

„Was fällt Ihnen ein“, rief Maja zornig. „Wie sollte ich auf diesen Gedanken kommen? Auch wenn ich es könnte, würde ich es niemals tun. Wie sollte ich den heiligen Pflichten der Königin in so leichtsinniger Weise vorgreifen?“

Der Grashüpfer duckte sich etwas zusammen und machte ein ganz unbeschreiblich komisches Gesicht, so daß Maja trotz ihres Verdrusses laut lachen mußte.

„Mamsell“, rief er, aber dann mußte er selber lachen und sagte nur noch: „Nein so was! Sie sind aber Eine!“

Maja wurde ganz ungeduldig durch das Benehmen dieses seltsamen Gesellen. „Warum lachen Sie denn?“ fragte sie nicht grade freundlich, „Sie können doch nicht im Ernst verlangen, daß ich Eier legen soll, und noch dazu hier auf den Rasen.“

Da knackte es, der Grashüpfer sagte: „Hoppla“, und fort war er.

Maja war ganz verdutzt. Hoch in die Luft hatte er sich geschwungen, ohne seine Flügel zu brauchen, in einem riesigen Bogen und, wie es Maja erschien, in einer an Wahnsinn grenzenden Tollkühnheit.

Aber da war er schon wieder. Sie hatte nicht sehen können, woher er kam, aber nun saß er neben ihr auf dem Blatt der Akeleiblume.

Er betrachtete sie von allen Seiten, von hinten und von vorn:

„Nein,“ sagte er dann schnippisch, „Sie können allerdings keine Eier legen, Sie sind nicht darauf eingerichtet. Sie haben keinen Legestachel.“

„Was,“ sagte Maja, „keinen Legestachel?“ Sie deckte sich etwas mit ihren Flügeln zu und drehte sich so um, daß der Fremde nur ihr Gesicht sehn konnte.

„Ja natürlich. Fallen Sie nur nicht von Ihrem Podium, Mamsell. Sie sind eine Wespe, nicht wahr?“

Etwas Schlimmeres hätte nun der kleinen Maja in aller Welt nicht begegnen können.

„Schockschwerenot!“ rief sie.

„Hoppla!“ antwortete der Grashüpfer und fort war er.

„Ich werde ganz nervös über so einer Person“, sagte Maja und beschloß fortzufliegen. Solange sie denken konnte, war ihr eine solche Beleidigung noch nicht widerfahren. Mit einer Wespe verwechselt zu werden, bedeutete ihr die größte Schmach, mit diesem nutzlosen Raubgesindel, mit diesem Diebsvolk, diesen Landstreichern. Es war in der Tat empörend.

Aber da war der Grashüpfer plötzlich wieder da.

„Mamsell“, rief er, und drehte sich langsam ein wenig, wobei seine langen Hinterbeine aussahen wie Uhrzeiger, wenn es fünf Minuten vor halb sieben ist, „Mamsell, Sie müssen entschuldigen, daß ich zuweilen das Gespräch unterbreche. Aber plötzlich packt es mich. Ich muß springen, um die Welt muß ich springen, wohin es immer sei. Kennen Sie das nicht auch?“

Er zog seinen Mund von einem Ohr zum anderen, indem er Maja anlächelte. Sie konnte nicht anders, sie mußte lachen.

„Nicht wahr?“ sagte der Grashüpfer und nickte ermutigend.

„Wer sind Sie denn nur?“ fragte Maja, „Sie sind schrecklich aufregend.“

„Aber man kennt mich doch überall“, sagte der Grüne und grinste wieder, so erschöpfend, wie Maja noch niemals jemanden hatte grinsen sehn. Sie wußte nie recht, ob er etwas im Ernst oder im Scherz meinte.

„Ich bin in dieser Gegend fremd,“ sagte sie freundlich, „sonst würde ich Sie sicher kennen, aber ich bitte Sie, sich zu merken, daß ich zur Familie der Bienen gehöre, und daß ich durchaus keine Wespe bin.“

„Ach Gott,“ sagte der Grashüpfer, „das ist doch dasselbe.“

Maja konnte vor Aufregung kaum sprechen.

„Sie sind ungebildet“, stieß sie endlich hervor. „Schaun Sie sich doch einmal eine Wespe an.“

„Was könnte mich wohl dazu veranlassen?“ antwortete der Grüne. „Wohin würde es führen, wenn ich mir Unterschiede merkte, die nur in der Einbildung existieren? Sie fliegen in der Luft herum, stechen alles, was in Ihre Nähe kommt, und können nicht springen. Genau so ist es mit den Wespen. Wo liegt also der Unterschied? Hoppla!“ Und fort war er.

Jetzt flieg ich aber, dachte Maja.

Da war er wieder.

„Mamsell,“ rief er, „morgen ist Wettspringen im Garten des Pfarrers Sündepiek. Wollen Sie eine Freikarte, um zuschauen zu können? Meine Alte hat deren noch zwei, gegen ein Kompliment gibt sie eine her. Ich hoffe den bestehenden Rekord zu schlagen.“

„Ich interessiere mich nicht für so ein Gehüpfe“, sagte Maja nicht ohne Verdruß. „Wer fliegen kann, hat höhere Interessen.“

Der Grashüpfer grinste, daß man es förmlich zu hören glaubte.

„Überschätzen Sie sich nicht, Mamsell. Die meisten Tiere der Welt können fliegen, aber springen können die wenigsten. Sie haben keinen Überblick über die Interessen der Mitwelt. Den Wunsch nach einem hohen, eleganten Sprung finden Sie sogar bei den Menschen. Kürzlich sah ich den Pfarrer Sündepiek fast einen Meter hoch springen, um einer kleinen Schlange zu imponieren, die vor ihm über den Weg lief. Seine Verachtung gegen alles, was nicht Springen war, ging dabei so weit, daß er seine Pfeife fortschleuderte, ohne die kein Pfarrer leben kann. Begreifen Sie diesen Ehrgeiz! — Ich habe Grashüpfer gekannt, und sie gehörten zu meiner Familie, die dreihundertmal so hoch sprangen, als sie selbst groß waren. Ja, nun staunen Sie und sagen kein Wort mehr, und bereuen innerlich alles, was Sie eben vorgebracht haben, und was Sie eventuell noch hätten behaupten wollen. Dreihundertmal so hoch, als er groß war! Muten Sie so etwas mal jemandem zu! Selbst das größte Tier der Welt, der Elefant, ist nicht in der Lage, einen solchen Sprung auszuführen. Nun? Da schweigen Sie! Habe ich nicht gesagt, daß Sie schweigen würden?“

„Aber wie soll ich denn reden, wenn Sie nicht einen Augenblick still sind“, rief Maja.

„Reden Sie also“, sagte der Grashüpfer freundlich, und dann rief er „Hoppla“ und war fort.

Da mußte die kleine Maja trotz ihres Verdrusses doch lachen. So etwas war ihr noch niemals begegnet. So sehr der Grashüpfer sie durch sein scherzhaftes Benehmen in Erstaunen setzte, so bewunderte sie doch seine Welterfahrenheit und seine großen Kenntnisse. Wenn sie es auch mit dem Springen nicht hielt wie er, so war sie doch verwundert über alle die Neuigkeiten, die sie in der kurzen Unterhaltung erfahren hatte. Wenn der Grüne nur etwas zuverlässiger gewesen wäre, sie hätte ihn gar zu gern nach diesem oder jenem gefragt. Oft erleben wirklich diejenigen am meisten, dachte sie, die am wenigsten damit anzufangen wissen.

Ob er die Sprache der Menschen verstehen konnte, da er doch ihre Namen wußte? Danach wollte sie ihn fragen, wenn er noch einmal zurückkam, und auch danach, wie er über eine Annäherung dachte und über den Versuch, den Menschen in seiner Behausung aufzusuchen.

„Mamsell!“ rief es neben ihr, und ein Grashalm schwankte.

„Mein Gott,“ sagte Maja, „wo kommen Sie nur immer her?“

„Aus der Umgegend“, sagte der Grashüpfer.

„Aber ich bitte Sie,“ rief Maja, „springen Sie denn so aufs Geratewohl in die Welt, ohne zu wissen, wohin es Sie führt, ohne den Ort zu kennen, wo Sie ankommen?“

„Natürlich“, sagte der Grüne. „Was denn sonst? Können etwa Sie in die Zukunft sehn? Das kann niemand. Nur der Laubfrosch kann es, aber er sagt nicht wie.“

„Was Sie alles wissen,“ rief die kleine Maja, „das ist einfach großartig. Verstehn Sie auch die Sprache der Menschen?“

„Das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist, Mamsell, denn es ist noch nicht nachgewiesen, ob die Menschen eine Sprache haben. Sie stoßen zuweilen Laute aus, deren abscheuliche Klanglosigkeit mit nichts zu vergleichen ist. Offenbar verständigen sie sich dadurch. Was man ihnen lassen muß, ist ein aufrichtiges Verlangen nach erträglichen Stimmen. Ich beobachtete zwei Knaben, die Grashalme zwischen ihre Finger nahmen und mit ihrem Mund Luft darauf bliesen, so daß ein surrender Ton entstand, der dem Zirpen einer Grille vielleicht verglichen werden könnte. Aber er blieb weit dahinter zurück. Jedenfalls tun sie, was sie können. Wollen Sie sonst noch etwas wissen? Ich weiß immerhin mancherlei.“

Und er grinste die kleine Maja an, daß man es förmlich hörte.

Aber als er nun das nächste Mal unversehens davonsprang, blieb er aus, und die Biene wartete eine Weile vergeblich auf ihn. Sie suchte ringsumher im Gras und in den Blumen, aber es war unmöglich, ihn wiederzufinden.

Sechstes Kapitel

Puck

Die Mittagshitze dieses schönen Sommertags machte die kleine Maja recht müde, sie flog gemächlich an grell beschienenen Gartenbüschen vorüber, bis die großen Blätter eines riesigen Kastanienbaums ihr Schutz und Kühle boten. Es standen Tische und Bänke unter der Kastanie auf dem zertretenen Rasen; offenbar war es eine Sommerwirtschaft, die unter der Baumkrone aufgeschlagen war. In der Nähe schimmerte das rote Ziegeldach eines Bauernhauses, aus dessen Schornsteinen ein bläulicher Rauch in den Sonnenschein emporzog.

Nun schien es der kleinen Maja ganz unvermeidlich, daß sie endlich einem Menschen begegnen müßte, war sie nicht bis unmittelbar in sein Machtbereich vorgedrungen? Sicherlich war dieser Baum sein Eigentum, und die seltsamen Holzgeräte im Schatten drunten gehörten zu seinem Stock.

Da summte es neben ihr, und eine Fliege ließ sich auf ihrem Blatt nieder. Sie lief eine Weile auf dem grünen Geäder herum, immer in kleinen Stößen, so daß man die Bewegungen ihrer Beine nicht sah und fast glauben konnte, sie rutschte rasch und aufgeregt hin und her. Dann flog sie von einem Teil des großen gefingerten Blattes zum andern, aber so schnell und unversehens, daß jeder geglaubt hätte, sie wäre gesprungen statt geflogen. Aber es sah nur so aus. Offenbar war ihr daran gelegen, herauszubekommen, auf welchem Teil des Blattes es am angenehmsten war. Zuweilen schwang sie sich für ein ganz kleines Stückchen urplötzlich in die Luft, brummte dabei geradezu leidenschaftlich, als sei etwas Unerhörtes geschehen, oder als bewegte sie das größte Vorhaben der Welt, ließ sich aber dann wieder nieder und machte wieder ihre sprunghaften Laufstrecken, als sei nichts geschehn, dann wieder saß sie ganz still, als ob sie plötzlich erstarrt wäre.

Maja sah zu, was die Fliege da in der Sonne tat. Endlich näherte sie sich ihr und sagte höflich:

„Ich wünsche guten Tag und heiße Sie auf meinem Blatt willkommen; soviel ich weiß, sind Sie eine Fliege.“

„Was denn sonst?“ fragte die Kleine, „ich heiße Puck, ich bin sehr beschäftigt. Wollen Sie mich vertreiben?“

„O nein. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, entgegnete Maja.

„Das glaub’ ich“, sagte Puck nur, und versuchte sich den Kopf abzureißen.

„Um Gottes willen,“ rief Maja, „schonen Sie sich!“

„Das muß sein, davon verstehn Sie nichts“, entgegnete Puck gelassen, und fuhr sich mit den Beinen über die Flügel, so daß sie sich hinten tief um den Leib bogen. „Ich bin übrigens eine Stubenfliege,“ fügte sie nicht ohne Stolz hinzu, „ich weile hier nur in der Sommerfrische.“

„Wie interessant,“ rief die kleine Maja glücklich, „da kennen Sie sicherlich den Menschen?“

„Den kenne ich wie meine Hosentasche,“ warf Puck geringschätzig ein, „ich sitze täglich darauf. Ja, aber wissen Sie denn das nicht? Ihr Bienen seid doch sonst so gescheit, ihr glaubt es wenigstens zu sein.“

„Ich heiße Maja“, antwortete die kleine Biene etwas schüchtern. Sie begriff nicht recht, wo die andern Insekten ihr Selbstbewußtsein, ihre Sicherheit und oft sogar ihre Frechheit hernahmen.

„Es ist schon gut,“ wehrte Puck ab, „heißen Sie, wie Sie wollen, dumm sind Sie jedenfalls.“

Puck saß da, wie eine Kanone, die grade abgefeuert werden soll, der Kopf und die Brust ragten empor, und die unterste Spitze ihres Leibes berührte das Blatt. Dann plötzlich duckte sie sich zusammen, so daß es aussah, als habe sie keine Beine.

„Vorsichtig muß man sein,“ sagte sie, „darauf kommt es an.“

Aber in der kleinen Maja wallte es nach der Kränkung, die Puck ausgesprochen hatte, zornig empor. Ohne daß sie recht wußte, was sie eigentlich trieb, schwang sie sich blitzschnell auf Puck zu, ergriff sie beim Kragen und hielt sie fest.

„Ich werde Sie lehren, gegen eine Biene höflich zu sein“, rief sie.

Puck fing ein fürchterliches Geschrei an.

„Stechen Sie nicht,“ schrie sie, „das ist das einzige, was Sie können, aber es schadet. Bitte nehmen Sie Ihren Hinterleib weg, soweit als möglich, darin sitzt der Stachel. Und lassen Sie mich los, wenn es Ihnen möglich ist, ich will alles tun, was Sie wollen. Verstehen Sie denn keinen Scherz!? Es weiß doch jeder, daß Ihr Bienen unter den Insekten die angesehensten seid, die mächtigsten und die zahlreichsten. Nur nicht töten, wenn ich bitten darf, es wäre nachher nicht mehr gutzumachen. Herrgott, daß niemand für meinen Humor Verständnis hat.“

„Gut,“ sagte Maja, nicht ohne ein wenig Verachtung im Herzen, „ich werde Sie leben lassen, wenn Sie mir vom Menschen alles sagen, was Sie wissen.“

„Gern,“ rief Puck, „ich hatte es ohnehin vor, aber jetzt lassen Sie los.“

Maja tat es. Es war ihr plötzlich gleichgültig geworden, sie hatte Vertrauen und Achtung vor der Fliege verloren. Was so ein Gesindel in Erfahrung bringt, dachte sie, hat für ernste Leute wenig Wert, ich werde wohl doch selbst sehen müssen, welche Beschaffenheit es mit dem Menschen hat.

Aber die kleine Fliege Puck wurde doch um vieles erträglicher, nachdem sie diese ernste Lehre empfangen hatte. Zu Anfang ordnete sie unter Gebrumm und Schelten ihre Fühler, Flügel und die Härchen ihres schwarzen Körpers. Alles war sehr in Unordnung geraten, denn die kleine Maja hatte fest zugepackt. Zum Schluß ließ Puck seinen Rüssel ein und aus fahren, etwas, das Maja noch niemals gesehn hatte.

„Verstaucht! Total verstaucht ist der Rüssel,“ rief sie schmerzlich, „das kommt von dieser Erregtheit, mit der Sie vorgehen. Sehen Sie selbst, unten die Saugplatte sieht aus wie ein verbogener Blechteller!“

„Haben Sie eine Saugplatte?“ fragte Maja.

„Ach Gott, selbstverständlich! Was wollen Sie also über den Menschen wissen? Das mit dem Rüssel wird sich schon geben. Ich denke, am besten erzähle ich Ihnen aus meinem Leben. Da ich unter Menschen groß geworden bin, werden Sie schon erfahren, was Sie wissen wollen.“

„Sie sind unter Menschen groß geworden?“

„Aber ja doch. In ihre Stubenecke legte meine Mutter das Ei, aus dem ich gekrochen bin, auf ihren Gardinen habe ich die ersten Gehversuche gemacht, und von Schiller bis Goethe probierte ich die Kraft meiner Flügel zum erstenmal.“

Maja fragte, was Schiller und Goethe seien, und Puck erklärte es ihr überlegen. Das seien die Statuen zweier Menschen, die sich offenbar besonders ausgezeichnet hätten. Sie stünden unter dem Spiegel, rechts und links, und würden von niemand beachtet.

Nun wollte Maja wissen, was ein Spiegel sei und warum diese beiden Statuen darunter stünden.

„Im Spiegel sieht man sich an seinem Bauch, wenn man darauf kriecht“, erklärte Puck. „Es ist sehr amüsant. Wenn die Menschen vor ihn hintreten, fahren sie sich entweder in die Haare, oder sie reißen an ihrem Bart. Wenn sie allein sind, lächeln sie hinein, aber wenn noch jemand im Zimmer ist, so machen sie ernste Angesichter. Den Zweck weiß ich nicht, ich habe ihn nie ergründen können, er scheint eine unnötige Spielerei der Menschen zu sein. Ich selbst habe in meinen ersten Lebenstagen sehr darunter gelitten, weil ich hineinflog und natürlich auf das heftigste zurückgeschleudert wurde.“

Es war der kleinen Puck sehr schwer, Maja weitere Fragen über den Spiegel genau zu beantworten. „Sehen Sie,“ sagte sie endlich, „Sie sind doch sicher einmal über eine blanke Wasserfläche geflogen? So etwa ist ein Spiegel, nur aufrecht und hart.“

Die kleine Fliege wurde um vieles freundlicher, nun da sie merkte, daß Maja ihr zuhörte und daß ihre Erfahrungen Beachtung fanden. Und wenn Maja auch keineswegs alles glaubte, was sie von der Fliege hörte, so bereute sie es doch, so gering von ihr gedacht zu haben. Andere sind oft um vieles gescheiter, als wir anfangs glauben, dachte sie.

Und Puck fuhr fort zu erzählen:

„Es dauerte lange, bis ich die Sprache der Menschen verstehen lernte. Man lernt sie schwer, ohne gewissermaßen mit den Menschen auf du zu stehen. Jetzt weiß ich endlich, was sie wollen. Viel ist es nicht, für gewöhnlich sagen sie jeden Tag dasselbe.“

„Aber das kann ich mir gar nicht denken“, sagte Maja. „Die Menschen haben doch so vielerlei Interessen, sie sind reich an Gedanken und groß an Taten. Ich habe von Kassandra gehört, daß sie Städte bauen, die größer sind, als daß man sie an einem Tag umfliegen kann, Türme, die so hoch sind wie der Brautflug unserer Königin, Häuser, die auf dem Wasser schwimmen, und andere, die schneller als ein Vogel über das Land dahingleiten, auf zwei schmalen silbernen Straßen.“

„Halt!“ sagte Puck energisch, „wer ist denn überhaupt Kassandra? Wer ist das, wenn ich fragen darf? Nun?“

„Ach so,“ sagte Maja, „es ist meine Erzieherin gewesen.“

„Eine Erzieherin,“ wiederholte Puck geringschätzig, „wahrscheinlich also eine Biene. Wer anders könnte zu solcher Überschätzung des Menschen kommen. Dieses Fräulein Kassandra, oder wie sie sich rufen läßt, hat keine geschichtliche Kenntnis. Die Einrichtungen der Menschen, von denen Sie eben gesprochen haben, sind sämtlich ohne besonderen Wert für uns. Wer wird die Welt so unpraktisch sehen, wie Sie es tun. Wenn Sie nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß die Erde von den Fliegen beherrscht wird, daß die Fliegen das verbreitetste und wichtigste Geschlecht sind, werden Sie die Welt kaum richtig erkennen lernen.“

Puck machte ein paar aufgeregte Zickzackwege auf dem Blatt und riß an ihrem Kopf, so daß Maja ganz besorgt wurde. Aber die kleine Biene hatte nun doch gemerkt, daß sie nicht gar zuviel Gescheites von der Fliege erfahren würde.

„Wissen Sie, woran Sie sehen können, daß ich recht habe?“ fragte Puck, und rieb sich die Hände, als ob sie sie miteinander verknoten wollte, „zählen Sie in einer Stube die Menschen und die Fliegen. Das Resultat wird Sie in ungeahnter Weise in Erstaunen setzen.“

„Vielleicht haben Sie recht,“ sagte Maja, „aber darauf kommt es nicht an.“

„Glauben Sie übrigens, ich sei diesjährig?“ fragte Puck plötzlich.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Maja.

„Ich habe überwintert“, berichtete Puck stolz. „Meine Erfahrungen gehen bis in die Eiszeit. Sie führen gewissermaßen mitten hindurch. Darum weile ich hier jetzt zur Erholung.“

„Mut haben Sie jedenfalls“, meinte Maja.

„O ja“, rief Puck und machte einen kleinen Luftsprung in die Sonne. „Die Fliegen sind das kühnste Geschlecht, das die Erde bevölkert. Sie werden überall sehen, daß wir stets nur dann flüchten, wenn es besser ist, aber wir kommen immer wieder. Haben Sie schon einmal auf einem Menschen gesessen?“

Maja verneinte und sah schräg und mißtrauisch auf die Fliege. Sie wußte immer noch nicht recht, was sie von ihr halten sollte.

„Nein,“ sagte sie nun, „ich habe kein Interesse daran.“

„Weil Sie es nicht kennen, meine Liebe! Wenn Sie einmal das muntere Spiel beobachtet hätten, das ich daheim mit dem Menschen treibe, so würden Sie vor Neid auswandern. Trotzdem will ich es Ihnen erzählen. In meinem Zimmer wohnt ein älterer Mensch, der die Farbe seiner Nase durch ein eigenartiges Getränk pflegt, das in einem Eckschrank verborgen ist. Es duftet betäubend und süß; wenn er darauf zugeht, um es sich zu holen, lächelt er, und die Augen werden klein. Er nimmt ein Gläschen, und wenn er trinkt, schaut er zur Decke herauf, ob ich schon da bin. Ich nicke ihm zu, und er fährt sich mit der Hand über Stirn, Nase und Mund, um mir anzudeuten, wo ich später sitzen soll. Dann blinzelt er und reißt den Mund auf, so weit er kann, und zieht die Vorhänge am Fenster zu, damit die Nachmittagssonne uns nicht stört. Endlich legt er sich auf ein Ruhebett, das Sofa genannt wird, und stößt nach kurzer Zeit dumpfe krächzende Laute aus, die er sicher für schön hält. Darüber wollen wir ein andermal reden, es ist der Schlummergesang des Menschen. Für mich ist es das Zeichen, mich zu nähern. Zunächst nehme ich meinen Anteil aus dem Glase, den er für mich zurückgelassen hat. Solch ein Tröpflein hat etwas außerordentlich Belebendes, ich verstehe den Menschen. Dann fliege ich hinzu und nehme auf der Stirn des Ruhenden Platz. Sie liegt zwischen der Nase und dem Haar und dient zum Denken. Man sieht es an den langen Falten, die sich wie Furchen von rechts nach links ziehen, und die beim Denken bewegt werden müssen, wenn etwas Rechtes dabei herauskommen soll. Auch wenn der Mensch verdrießlich ist, zeigt es sich dort, aber dann laufen die Furchen von oben nach unten und über der Nase bildet sich eine runzelige Erhöhung.

Sobald ich sitze und in den Furchen hin und her laufe, fängt der Mensch an, mit der Hand in die Luft zu greifen. Er meint, ich sei dort irgendwo. Weil ich auf seinen Denkfalten sitze, kann er nicht so rasch herausbringen, wo ich mich eigentlich befinde. Aber endlich kommt er dahinter. Er knurrt und greift nach mir. Na, wissen Sie, Fräulein Maja, oder wie Sie sich rufen lassen, da muß man sich vorsehen. Ich sehe die Hand kommen, aber ich warte bis zuletzt, dann mache ich rasch einen geschickten Flug zur Seite, setze mich und schau zu, wie er nachfühlt, ob ich noch da bin. So geht es oft eine halbe Stunde lang, Sie haben keine Ahnung, welch eine Ausdauer der Mensch hat. Endlich springt er auf und läßt allerlei Worte hören, die von seiner Undankbarkeit Zeugnis ablegen. Aber was wollen Sie? Ein edles Herz rechnet nicht auf Entgelt. Ich bin dann schon wieder oben an der Zimmerdecke und höre zu, wie er undankbar ist.“

„Ich kann nicht eben sagen, daß mir das sonderlich gefällt“, meinte Maja. „Ist es nicht recht unnütz?“

„Soll ich etwa eine Honigwabe auf seiner Nase anbauen?“ rief Puck. „Sie haben keinen Humor, meine Liebe. Was tun Sie denn Nützliches?“

Die kleine Maja wurde über und über rot. Aber sie faßte sich schnell, um Puck ihre Verlegenheit nicht merken zu lassen.

„Es wird ein Tag kommen, an dem ich etwas Schönes und Großes tue, das gut und nützlich ist,“ sagte sie schnell, „aber erst will ich sehn, was in der Welt vorgeht. Ich fühle es tief im Herzen, daß es so kommen muß!“

Und als die kleine Maja dies ausrief, fühlte sie, wie es heiß in ihr emporwallte vor Hoffnung und Begeisterung, aber Puck schien gar nicht zu verstehn, wie ernst es ihr war und was sie innerlich bewegte. Sie machte ihre aufgeregten kurzen Laufstrecken hin und her und meinte endlich:

„Haben Sie vielleicht etwas Honig bei sich, meine Gute?“

„Es tut mir sehr leid,“ antwortete Maja, „ich würde Ihnen gern etwas geben, zumal Sie mich so freundlich unterhalten haben, aber ich habe nichts. Dürfte ich vielleicht noch eine Frage stellen?“

„Schießen Sie los,“ sagte Puck, „ich antworte immer.“

„Ich möchte von Ihnen wissen, wie ich in die Behausung des Menschen gelangen kann.“

„Sie müssen hineinfliegen“, sagte Puck weise.

„Aber wie gelingt es mir ohne Gefahr?“

„Warten Sie, bis eins der Fenster geöffnet ist, aber merken Sie sich den Ausgang. Sollten Sie ihn nicht wiederfinden, so fliegen Sie später am besten dem Licht nach. Fenster finden Sie an jedem Haus genug, Sie brauchen nur darauf zu achten, wo die Sonne sich spiegelt. Wollen Sie denn schon fort?“

„Ja“, antwortete Maja und gab Puck die Hand. „Leben Sie wohl und erholen Sie sich recht. Ich habe noch allerlei vor.“

Und mit ihrem vertrauten leisen Summen, das immer ein wenig sorgenvoll klang, hob die kleine Maja ihre glänzenden Flügel und flog in den Sonnenschein hinaus auf die Blumenwiesen, um ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen.

Puck sah ihr nach, überlegte alles vorsichtig, was man etwa noch äußern könnte, und sagte dann nachdenklich:

„Nun, schließlich, also! — Warum auch nicht?“

Siebentes Kapitel

Majas Gefangenschaft bei der Spinne

Nach dieser Begegnung mit der Fliege Puck war der kleinen Maja nicht sonderlich froh zumute. Sie konnte sich unmöglich denken, daß Puck in allem recht haben sollte, was sie über den Menschen gesagt hatte und wie sie sich zu ihm stellte. Maja dachte so ganz anders vom Menschen. Sie hatte ein hohes und schönes Bild von ihm und sträubte sich dagegen, etwas Geringes und Lächerliches von ihm zu glauben. Aber sie wagte es doch nicht, sich in seine Behausung zu begeben. Wie sollte sie wissen, ob es ihm angenehm war, und um alles in der Welt wollte sie niemandem zur Last fallen. Sie dachte noch einmal über alles nach, was Kassandra ihr erzählt hatte: „Die Menschen sind gut und weise“, hatte sie ihr gesagt. „Sie sind sehr stark und mächtig, aber sie mißbrauchen ihre Kräfte nicht, sondern überall, wo sie hinkommen, entsteht Ordnung und Wohlstand. Sie sind dem Volk der Bienen wohlgesinnt, darum vertrauen wir Bienen uns ihrem Schutz an und teilen unseren Honig mit ihnen. Sie lassen uns genug für den Winter und sorgen dafür, daß der Frost und die große Schar der Feinde, die wir unter den Tieren haben, uns nicht stören oder vernichten. Es gibt wenig freie Tiere in der Welt, die solch ein Verhältnis von Freundschaft und freiwilliger Dienstbarkeit mit den Menschen eingegangen sind. Du wirst immer wieder unter den Insekten Stimmen hören, die dem Menschen Böses nachsagen. Höre nicht auf sie. Wenn ein betörtes Bienenvolk sich einmal in die Wildnis begibt und sein Heil ohne den Menschen versucht, geht es rasch zugrunde. Es gibt zu viele Wesen, die Verlangen nach unserm Honig tragen, und oft ist ein ganzer Staat ruchlos vernichtet worden, mit seinen Bauten und seiner Brut, nur weil ein unvernünftiges Tier seine Begierde nach dem Honig stillen wollte.“ So hatte ihr Kassandra damals erzählt, und solange sich Maja nicht vom Gegenteil überzeugt hatte, wollte sie an die Wahrheit dieser Worte glauben.

Es war schon Nachmittag geworden, und die Sonne stand hinter den Obstbäumen eines großen Gemüsegartens, den Maja durchflog. Die Bäume waren längst verblüht, aber die kleine Biene entsann sich noch gut, sie alle in ihrem leuchtenden Glanz von unzähligen Blüten gesehen zu haben, die sich heller als das Licht und betörend rein und lieblich gegen den blauen Himmel emporgehoben hatten. Der süße Duft und der lichte Schimmer hatten sie zu einer Seligkeit berauscht, die sie in ihrem Leben niemals vergessen wollte.

Sie dachte nun im Dahinfliegen darüber nach, daß das alles wiederkommen sollte, und ihr Herz wurde weit vor Glück über die Herrlichkeit der großen Erde, auf der sie leben durfte.

Am Ende des Gartens schimmerten die weißen Sternenbüschel des Jasmin, mit ihren zarten gelben Angesichtern, mitten im Strahlenkranz von reinem Weiß. Der sanfte Wind trug ihr den süßen Duft entgegen. Und gab es nicht auch noch Linden, die in dieser Jahreszeit in voller Blüte standen? Und Maja dachte beglückt an die großen, ernsten Linden, in deren Wipfel bis zuletzt das rötliche Glühen der Abendsonne stand.

Sie flog zwischen Brombeerranken hindurch, die schon grüne Beeren angesetzt hatten, aber auch noch Blüten trugen. Als sie wieder empor wollte, um zum Jasmin zu gelangen, legte sich plötzlich etwas Fremdartiges über ihre Stirn und über ihre Schultern, ebenso rasch bedeckte es die Flügel, so daß sie wie gelähmt wurden und Maja in dem seltsamen Wunder dieser fremden Erscheinung das Bewußtsein hatte, plötzlich in ihrem Flug gehemmt zu sein und das Gefühl, zu fallen, kraftlos niederzufallen, als hielte eine heimliche, böse Gewalt ihre Fühler, ihre Beine und ihre Flügel in unsichtbarer Gefangenschaft. Aber sie fiel nicht. Obgleich sie ihre Flügel nicht mehr bewegen konnte, schwebte sie doch, wunderbar weich und zart und nachgiebig hielt es sie, hob sie ein wenig, senkte sie wieder und trieb sie hin und her, als spielte ein sanfter Wind mit einem gelösten Blatt.

Die kleine Maja überkam ein Gefühl von Beängstigung, aber recht fürchten konnte sie sich noch nicht, da sie weder Schmerzen empfand, noch eigentlich ein Unbehagen verspürte. Nur seltsam war es, ganz seltsam, und dahinter lauerte etwas Böses. Sie wollte doch sehn, daß sie weiter kam. Wenn sie sich recht anstrengte, so würde es ihr sicher gelingen.

Da sah sie quer über ihrer Brust einen unendlich feinen, dehnbaren Silberfaden, und als sie rasch und in heißem Schreck danach griff, blieb er an ihrer Hand hängen, klebte fest und ließ sich nicht mehr lösen. Und dort lief ein zweiter Silberfaden über ihre Schulter, zog sich über die Flügel hin und verband sie miteinander, so daß sie sie nicht mehr heben konnte. Und dort und dort, überall in der Luft und über ihren Körper hin liefen diese hellen, glitzernden, klebrigen Fäden.

Die kleine Maja schrie laut auf vor Entsetzen, denn nun hatte sie erkannt, was ihr geschehn war und wo sie sich befand. Sie war im Netz der Spinne.

Ihr Weinen und Rufen scholl laut und angstvoll in die stille sommerliche Runde, in der der Sonnenschein auf goldgrünen Blättern blinkte, in der Insekten hin und her flogen und Vögel sich durch die Luft warfen. Ganz nah duftete der Jasmin im Blau. Dorthin hatte sie gewollt, nun war es mit ihr zu Ende.

Ein kleiner bläulicher Schmetterling, der braune Pünktchen, die wie Kupfer schimmerten, auf seinen Flügeln hatte, kam ganz dicht an Maja vorüber.

„Ach Arme“, rief er, als er das Jammern der kleinen Maja hörte und sie verzweifelt im Netz der Spinne zappeln sah. „Möchte Ihnen der Tod leicht werden, Sie Liebe. Ich kann Ihnen nicht helfen. Auch mich trifft es einmal, vielleicht schon diese Nacht. Aber noch ist es schön für mich. Leben Sie wohl, vergessen Sie die Sonne nicht in Ihrem tiefen Todesschlaf.“

Und er schaukelte weiter, ganz betäubt vom Blühn und von der Sonne und von seiner Lebensseligkeit.

Der kleinen Maja stürzten die Tränen aus den Augen, und sie verlor allen Halt und jede Gefaßtheit. Hin und her stieß sie sich mit ihren gefesselten Flügeln und Beinchen, schrie und summte, so laut sie konnte, und rief um Hilfe und wußte nicht wen. Und dabei verwickelte sie sich immer fester in das Netz. Ach, nun gingen ihr in ihrer großen Angst die Warnungen Kassandras durch den Sinn: „Hüte dich vor dem Netz der Spinne, in ihrer Gewalt erleiden wir den grausamsten Tod. Sie ist herzlos und tückisch und läßt niemanden wieder frei.“

Ihre Todesangst wurde zur Verzweiflung, mit ihren letzten Kräften machte sie eine gewaltige Anstrengung, aber obgleich sie die Empfindung hatte, als risse irgendwo eines der langen, stärkeren Tragseile, in denen das Netz hing, so spürte sie doch das furchtbare Verhängnis des Spinnennetzes, das darin bestand, daß es um so gefährlicher wirkte, je mehr man sich darin bewegte.

Als sie in völliger Erschöpfung einen Augenblick innehielt, sah sie unter einem großen Brombeerblatt, ganz in ihrer Nähe, die Spinne sitzen. Ihr Entsetzen war unbeschreiblich, als sie das große Ungeheuer ganz ernst und still wie zu einem Sprung geduckt unter dem Blatt hocken sah. Die Spinne sah mit bösen funkelnden Augen auf die kleine Maja, in einer boshaften Geduld und grauenhaft kaltblütig.

Maja stieß einen lauten Schrei aus. Ihr war, als habe sie noch niemals so voller Angst aufgeschrien. Schlimmer konnte auch der Tod selbst nicht aussehen, als dieses graue, behaarte Ungetüm mit seinem bösen Gebiß und den hochstehenden Beinen, in denen der plumpe Körper wie in einem Gestell hockte. Und nun gleich würde sie zustürmen, und mit ihrem Leben war es zu Ende.

Da befiel Maja ein furchtbarer Zorn, wie sie ihn niemals gefühlt hatte. Sie stieß ihren hellen, bösen Kampfruf aus, den alle Tiere kennen und fürchten, und vergaß ihre Angst und ihr Herzeleid und war nur noch darauf aus, ihr Leben so teuer als möglich zu verkaufen.

„Sie werden Ihre Hinterlist mit dem Tode büßen“, schrie sie der Spinne entgegen. „Kommen Sie nur her, um mich zu töten, Sie werden erfahren, was eine Biene vermag.“

Die Spinne rührte sich nicht. Es war wirklich außerordentlich unheimlich und hätte sicher auch größere Tiere geängstigt, als die kleine Maja eines war.

Mit der Kraft ihres Zorns machte sie eine letzte verzweifelte Anstrengung. Knack! Da riß über ihr ein langer Faden, der das Netz an einer Seite hielt. Es war sicher für kleine Mücken oder Fliegen berechnet und nicht für so große Insekten, wie es Bienen sind. Aber Maja verwickelte sich nur noch ärger.

Da glitt die Spinne mit einem Ruck näher, ganz dicht bis an die kleine Maja heran, auf einem einzigen Faden, an dem sie mit den beweglichen Beinen heranturnte, so daß ihr Körper nach unten hing.

„Was berechtigt Sie dazu, mir mein Netz zu zerstören?“ sagte sie mit krächzender Stimme zu Maja. „Was wollen Sie hier? Ist die Welt nicht groß genug? Was stören Sie eine friedliche Einsiedlerin?“

Das hatte die kleine Maja nicht erwartet. Nein, das wirklich nicht.

„Es war ein Versehen“, rief sie, und zitterte vor Glück und Hoffnung. So häßlich die Spinne auch war, so schien sie doch keine bösen Absichten zu haben. „Ich habe leider Ihr Netz nicht beachtet und habe mich verwickelt. Ach, entschuldigen Sie.“

Die Spinne kam etwas näher.

„Sie sind ja eine ganz dralle kleine Person“, sagte sie, und ließ sich abwechselnd erst mit dem einen, dann mit dem andern Bein etwas los. Der Faden schwankte. Es war wirklich erstaunlich, daß ein so dünner Faden die große Spinne trug.

„Ach, helfen Sie mir los,“ bat Maja, „ich will mich erkenntlich zeigen, so gut ich kann.“

„Deshalb bin ich gekommen“, sagte die Spinne und lächelte merkwürdig. Trotz dieses Lächelns sah sie heimtückisch und böse aus. „Sie zerstören mir ja mit Ihrem Gezappel das ganze Netz. Wenn Sie einen Augenblick stillhalten, will ich Sie befreien.“

„Vielen, vielen Dank“, rief Maja.

Die Spinne war nun ganz dicht neben ihr. Sie überzeugte sich genau, wie fest Maja sich schon verwickelt hatte.

„Wie ist es mit dem Stachel?“ fragte sie.

Nein, wie böse und garstig sah sie aus. Maja schüttelte es ordentlich vor Entsetzen, wenn sie daran dachte, daß die Spinne sie nun berühren wollte. Aber sie sagte so freundlich, als sie vermochte:

„Machen Sie sich wegen meines Stachels keine Sorge. Ich werde ihn einziehn und dann verletzt sich niemand daran.“

„Das bitte ich mir aus“, sagte die Spinne. „Also! Aufgepaßt! Still gehalten! Es ist wirklich schade um mein Netz.“

Die kleine Maja hielt still. Sie fühlte sich plötzlich herumgewirbelt, immer auf demselben Fleck, so daß ihr ganz schwindlig zumute wurde. Sie mußte die Augen schließen, und ihr wurde übel. — Aber was war das?! Entsetzt riß sie die Augen auf. Sie war über und über eingewickelt von einem ganz frischen klebrigen Faden, den die Spinne bei sich gehabt haben mußte.

„O du lieber Gott“, sagte die kleine Maja leise und mit bebender Stimme. Mehr sagte sie nicht. Nun war es zu Ende. Nun erkannte sie die Hinterlist der Spinne. Nun erst war sie gefangen, nun gab es kein Entrinnen mehr. Sie konnte keinen Flügel, kein Glied ihres Körpers mehr bewegen.

Ihr Zorn und ihre Wut waren verflogen, nur eine große Traurigkeit kam über ihr Herz. Ich habe nicht gewußt, daß es soviel Schlechtigkeit und Bosheit in der Welt gibt, dachte sie. Nun kommt meine tiefe Todesnacht, leb’ wohl, helle Sonne, lebt wohl, meine lieben Gefährten, warum hab’ ich euch verlassen? Lebt alle wohl. Ich muß sterben.

Die Spinne saß vorsichtig ein wenig beiseit. Sie fürchtete sich immer noch vor dem Stachel der kleinen Maja.

„Nun?“ fragte sie spöttisch, „wie befinden Sie sich, meine Kleine?“

Maja war zu stolz, dieser Falschen noch zu antworten. Nur nach einer Weile, als sie glaubte, ihre Traurigkeit nicht mehr ertragen zu können, sagte sie:

„Töten Sie mich bitte gleich.“

„I wo,“ sagte die Spinne und verknotete ein paar zerrissene Fäden, „meinen Sie, ich wäre so dumm wie Sie? Sterben tun Sie sowieso, wenn man Sie nur lange genug hängen läßt, und ich kann Ihnen Ihr Blut auch noch aussaugen, wenn Sie nicht mehr stechen können. Es ist nur schade, daß Sie nicht mehr sehen können, wie Sie mein schönes Netz zugerichtet haben, dann würden Sie Ihren Tod wenigstens als gerecht empfinden.“

Sie ließ sich blitzschnell bis an die Erde nieder, legte das Ende des neugesponnenen Fadens um einen kleinen Stein und zog es fest an.

Dann kam sie wieder herauf, ergriff das feste Seil, an dem die eingewickelte Maja hing, und schleppte es langsam mit ihrer Gefangenen fort.

„Sie kommen in den Schatten, meine Liebe,“ sagte sie, „damit die Sonne Sie nicht austrocknet. Da oben wirken Sie mir auch zu abschreckend auf andere Leutchen, die nicht aufpassen können. Und die Grasmücken kommen auch zuweilen auf den Gedanken, mein Netz zu plündern. Und damit Sie wissen, mit wem Sie zu tun haben: Ich heiße Thekla, von der Familie der Kreuzspinnen. Ihren Namen brauchen Sie mir nicht zu nennen, er ist gleichgültig, ein fetter Bissen sind Sie jedenfalls.“

Da hing nun die kleine Maja tief im Schattendunkel des Brombeerbusches dicht über der Erde, der Grausamkeit der Spinne hilflos überliefert, die vorhatte, sie langsam verhungern zu lassen. Da sie mit dem Köpfchen nach unten hing, fühlte sie bald, daß sie diese schreckliche Lage nicht lange aushalten würde. Sie wimmerte leise vor sich hin, und ihre Hilferufe wurden immer schwächer. Wer auch sollte ihr helfen? Die Ihren daheim wußten nichts von dem Leid, das ihr widerfahren war, und konnten nicht zu ihrer Befreiung herbeieilen.

Da hörte sie plötzlich unter sich im Gras jemanden mißmutig brummen, und sie verstand die Worte:

„Ich komme, das genügt für alle, um Platz zu machen!“

Ihr geängstigtes Herz begann stürmisch zu klopfen, denn sie erkannte an der Stimme sogleich den Mistkäfer Kurt, den sie damals bei der Grille Iffi belauscht hatte, und dem sie geholfen hatte, sich aus seiner bösen Lage wieder aufzurichten.

„Kurt,“ rief sie, so laut sie konnte, „lieber Kurt!“

„Machen Sie Platz“, rief der blaue Kurt, der es in der Tat war.

„Ich bin Ihnen ja nicht im Weg, Kurt,“ rief Maja, „ach, ich hänge hier über Ihnen, die Spinne hat mich gefangen.“

„Aber wer sind Sie denn?“ fragte Kurt. „Ich bin sehr bekannt, überall, das werden Sie jetzt voraussichtlich zugeben?“

„Ich bin die Biene Maja. O bitte, bitte, helfen Sie mir!“

„Maja? Maja? — Ach, ich erinnere mich. Sie lernten mich vor einigen Wochen kennen. Sapperlot, Sie sind allerdings in einer fatalen Lage, das muß ich zugeben, da ist freilich meine Hilfe nötig. Da ich augenblicklich Zeit habe, werde ich sie Ihnen nicht verweigern.“

„O lieber Kurt! Können Sie diese Fäden zerreißen?“

„Diese Fäden? Wollen Sie mich beleidigen?“ Kurt schlug mit der Hand auf die Muskeln seines Arms. „Sehen Sie her, Kleine, das ist so gut wie reinster Stahl! So was an Kraft finden Sie so leicht nicht wieder. Ich nehme andere Dinge auf mich, als ein paar Spinnweben zu zerschmettern. Sie werden Ihr Wunder erleben.“

Er kroch an dem Blatt empor, ergriff den Faden, an dem die kleine Maja hing, hielt sich daran fest und ließ dann das Blatt los. Der Faden riß und beide fielen zu Boden.

„Das wäre der Anfang“, sagte Kurt. „Aber Sie zittern ja, kleine Maja, ach Arme, wie blaß Sie sind. Wer wird sich denn so vor dem Tode fürchten? Dem Tod muß man ruhig ins Auge sehn, wie ich es zu tun pflege. So, nun werde ich Sie auspacken.“

Es war der kleinen Biene unmöglich, ein Wort zu sprechen. Helle Freudentränen liefen ihr über die Wangen. Sie sollte frei werden, sie sollte wieder im Sonnenschein fliegen, wohin sie wollte, sie sollte leben.

Da sah sie über sich die Spinne die Brombeerranke herunterkommen.

„Kurt,“ schrie sie, „die Spinne kommt!“

Kurt ließ sich nicht stören, er lachte nur vor sich hin. Er war allerdings ein außerordentlich starker Käfer.

„Die überlegt es sich noch“, sagte er ruhig.

Aber da erklang schon die böse krächzende Stimme über ihnen:

„Räuber! Zu Hilfe! Man beraubt mich. Was haben Sie dicker Lümmel mit meiner Beute zu schaffen?!“

„Regen Sie sich nicht auf, Madame“, sagte Kurt. „Ich werde mich wohl noch mit meiner Freundin unterhalten dürfen. Wenn Sie noch ein Wort sagen, was mir nicht gefällt, so zerreiße ich Ihnen Ihr ganzes Netz. Nun? Warum sind Sie denn plötzlich so schweigsam?“

„Ich bin eine geschlagene Frau“, antwortete die Spinne.

„Das tut nichts zur Sache“, meinte Kurt. „Jetzt machen Sie, daß Sie weiterkommen!“

Die Spinne warf einen haßerfüllten und giftigen Blick auf Kurt, aber dann sah sie zu ihrem Netz empor und überlegte sich die Sache. Langsam kehrte sie um und schalt leise und grimmig vor sich hin. Da nützte allerdings kein Biß und kein Stich, gegen einen solchen Panzer, wie Kurt ihn trug, war nicht anzukommen.

Sie klagte auf das heftigste über die Ungerechtigkeit der Umwelt und versteckte sich für alle Fälle vorläufig in einem welken Blatt, von dem aus sie ihr Netz übersehen konnte.

Inzwischen war Kurt unten mit der Befreiung der kleinen Maja zu Ende. Er hatte die Gewebe zerrissen, ihre Flügel und Beinchen befreit, und den Rest konnte sie nun selbst übernehmen. Sie putzte sich froh und glücklich, wenn auch nur langsam, weil sie sehr geschwächt war von ihrer Angst und immer noch zitterte.

„Sie müssen es vergessen,“ sagte Kurt, „dann hört das Zittern auf. Versuchen Sie mal, ob Sie fliegen können.“

Maja erhob sich mit leisem Summen, es ging vortrefflich, und sie erkannte zu ihrer Freude, daß keins ihrer Glieder beschädigt war. Sie flog langsam bis zu den Jasminbüschen hinauf, trank gierig von dem duftenden Honigsaft, den sie in großer Fülle fand, und kehrte dann zu Kurt zurück, der das Brombeergebüsch verlassen hatte und im Gras saß.

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen“, sagte Maja, tief ergriffen vom Glück ihrer neuen Freiheit.

„Es ist schon sehr dankenswert, was ich getan habe,“ meinte Kurt, „aber ich bin immer so. Nun fliegen Sie nur weiter. Ich würde Ihnen raten, sich heute abend früh aufs Ohr zu legen. Haben Sie weit bis nach Haus?“

„Nein,“ antwortete Maja, „nur ein paar Minuten, ich wohne am Buchenwald. Leben Sie wohl, Kurt, ich werde Sie nie vergessen. Nie will ich Sie vergessen in meinem ganzen Leben.“

Achtes Kapitel

Die Wanze und der Schmetterling

Die Gefangenschaft bei der Spinne hatte der kleinen Maja doch zu denken gegeben. Sie beschloß vorsichtiger zu werden, und sich künftig nicht mehr allzu rasch einzulassen. Wenn Kassandra sie auch über die größten Gefahren, die den Bienen drohen, unterrichtet hatte, so war doch die Welt zu groß, und es gab zu vielerlei Möglichkeiten, als daß man nicht allen Grund gehabt hätte, nachdenklich zu werden. Besonders des Abends, wenn die Dämmerung über das Land niedersank, kamen der kleinen Biene mancherlei Erwägungen in ihrer Einsamkeit; schien aber am andern Morgen die Sonne, so vergaß sie für gewöhnlich die Hälfte ihrer Besorgnisse und ließ sich durch ihr Verlangen nach Erlebnissen aufs neue in den bunten Lebensstrudel hinaustreiben.

Eines Tages begegnete ihr in einem Himbeergebüsch ein merkwürdiges Tier. Es war eckig und seltsam platt, hatte aber eine hübsche Zeichnung auf seinem Rückenschild, von dem man nicht recht sagen konnte, ob es Flügel waren oder nicht. Das seltsame kleine Ungeheuer saß ganz still mit halbgeschlossenen Augen auf einem Blatt im Schatten im Duft der Himbeeren und schien nachzudenken.

Maja wollte wissen, was das für ein Tier war. Sie flog ganz in die Nähe, setzte sich auf ein benachbartes Blatt und grüßte. Die Fremde antwortete nicht.

„Sie!“ sagte Maja und stieß das Blatt der Fremden an, so daß es etwas wackelte. Da öffnete das platte Geschöpf langsam ein Auge, schaute Maja damit an und sagte:

„Eine Biene. Nun ja, es gibt viele Bienen.“ Und dann machte es sein Auge wieder zu.

Wie eigenartig, dachte die kleine Maja, aber sie beschloß doch, hinter das Geheimnis der Fremden zu kommen. Nun war sie ihr erst recht interessant geworden, wie Leute es oft werden, die nichts von uns wissen wollen. Maja versuchte es mit etwas Honig. „Ich habe reichlich,“ sagte sie, „wenn ich Ihnen vielleicht etwas anbieten darf?“

Die Fremde machte ihr Auge wieder auf und schaute Maja eine Weile sinnend an. Was wird sie diesmal sagen, dachte die Biene. Aber es kam keine Antwort, nur das Auge schloß sich wieder, und die Fremde blieb still sitzen, ganz fest an das Blatt geschmiegt, so daß man nichts von ihren Beinen sah und fast glauben konnte, es hätte sie jemand mit dem Daumen so fest an das Blatt gepreßt, daß sie darüber platt geworden war.

Maja merkte nun wohl, daß die Fremde nichts von ihr wissen wollte, aber wie es einem so geht, man möchte nicht gern so unhöflich verabschiedet werden, am wenigsten ohne zu seinem Ziel gelangt zu sein. Das wäre ja gradezu eine Blamage gewesen, und die erlebt niemand gern.

„Wer immer Sie sein mögen,“ rief Maja, „merken Sie sich, daß man in der Insektenwelt einen Gruß zu erwidern pflegt, ganz besonders aber dann, wenn er von einer Biene geboten wird.“

Es blieb ganz still, und nichts rührte sich. Die Fremde machte ihr Auge nicht mehr auf.

Dies Tier ist krank, dachte sich Maja. Wie unangenehm, an einem so schönen Tage krank zu sein, darum sitzt es auch im Schatten. Sie flog auf das Blatt der Fremden und setzte sich neben sie.

„Meine Liebe,“ fragte sie freundlich, „was fehlt Ihnen?“

Da begann das fremde Tier sich fortzubewegen, auf ganz absonderliche Art, als ob es von einer unsichtbaren Hand geschoben würde. Es hat keine Beine, dachte Maja, deshalb ist es so verstimmt. Am Stiel des Blattes machte es halt, und nun sah Maja zu ihrer Verwunderung, daß es einen kleinen braunen Tropfen zurückgelassen hatte. Wie apart, dachte sie, aber da verbreitete sich plötzlich ein furchtbarer Geruch in der Luft, der von diesem braunen Tropfen ausging. Die Biene wurde beinahe betäubt, so eindringlich und widerwärtig war dieser Geruch, und so rasch sie konnte, flog sie empor und setzte sich auf eine Himbeere, hielt sich die Nase zu und schüttelte sich vor Aufregung und Entsetzen.

„Ja, warum lassen Sie sich mit einer Wanze ein,“ sagte jemand über ihr und lachte.

„Lachen Sie nicht!“ rief Maja.

Sie sah sich um. Über ihr auf einem feinen schaukelnden Trieb des Himbeerbusches saß ein weißer Schmetterling. Er klappte seine großen Flügel langsam auf und wieder zu, lautlos und von der Sonne beglückt. Seine Flügel hatten schwarze Ecken, auch waren mitten darauf runde schwarze Punkte, auf jedem Flügel einer, so daß es zusammen vier waren. Maja hatte schon viele Schmetterlinge gesehen, aber sie hatte noch keinen kennengelernt. Vor Entzücken über seine Schönheit vergaß sie ihren Verdruß.

„Ach,“ sagte sie, „Sie haben vielleicht ganz recht, wenn Sie lachen. War das eine Wanze?“

Der Schmetterling nickte. „Aber sicher war es eine,“ sagte er, immer noch lächelnd, „mit denen läßt man sich nicht ein. Sie sind wohl noch sehr jung?“

„Nun,“ meinte Maja, „das will ich nicht grade behaupten. Ich habe große Erfahrungen gemacht. Aber so ein Tier ist mir noch nicht vorgekommen. Wer tut denn so was?“

Der Schmetterling mußte wieder lachen.

„Die Wanzen“, erzählte er, „sind gern allein, und weil sie im allgemeinen nicht sehr beliebt sind, versuchen sie sich auf diese Art bemerkbar zu machen. Man würde sie sonst wahrscheinlich bald vergessen, aber auf diese Art denkt man an sie. Das wollen sie jedenfalls.“

„Wie schön Ihre Flügel sind,“ sagte Maja, „so leicht und weiß. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich heiße Maja, vom Volk der Bienen.“

Der Schmetterling legte seine Flügel zusammen, so daß es aussah, als habe er nur einen, sie standen grade in die Luft empor. Er verbeugte sich ein wenig und sagte nur ganz kurz:

„Fritz.“

So hieß er. Maja konnte sich nicht satt sehen an seinen Flügeln. „Fliegen Sie mal“, sagte sie.

„Soll ich fortfliegen?“

„O nein,“ antwortete Maja, „ich möchte nur sehen, wie Ihre großen weißen Flügel sich in der blauen Luft bewegen, aber ich kann es ja auch später noch sehen. Wo wohnen Sie?“

„Ich habe keine bestimmte Wohnung,“ sagte Fritz, „man hat zu viel Umstände damit. Seit ich ein Schmetterling bin, ist das Leben erst wirklich schön. Früher, als ich eine Raupe war, kam man den ganzen Tag nicht von den Kohlblättern herunter, fraß und zankte sich.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte Maja erstaunt.

„Früher war ich eine Raupe“, sagte Fritz.

„Ausgeschlossen“, rief Maja.

„Na, hören Sie mal,“ meinte Fritz und richtete seine beiden Fühler grade auf Maja, „das weiß doch jeder, das weiß sogar der Mensch.“

Die kleine Maja wurde ganz befangen. Ob so etwas in der Welt möglich war?

„Da müssen Sie sich erst deutlicher erklären,“ sagte sie zweifelnd, „so ohne weiteres werde ich das nicht glauben. Das können Sie nicht verlangen.“

Der Schmetterling setzte sich neben die Biene auf den kleinen schwankenden Zweig des Busches, und sie schaukelten nebeneinander im Morgenwind. Er erzählte ihr, wie er eines Tages als Raupe begonnen habe sich einzuspinnen, bis nichts mehr kenntlich war als eine unscheinbare braune Hülle, die Puppe genannt würde. „Und nach wenig Wochen“, fuhr er fort, „erwachte ich aus meinem dunklen Schlaf und zerbrach meine Hülle. Ich kann Ihnen niemals schildern, Maja, wie einem nach so einer Zeit zumute ist, wenn man plötzlich die Sonne wieder sieht. Mir war zumute, als verginge ich in einem warmen goldenen Meer, und ich habe mein Leben so geliebt, daß ich Herzklopfen bekam.“

„Das kann ich verstehn,“ sagte Maja, „es ist mir ebenso gegangen, als ich zum erstenmal aus unserer düsteren Stadt in den hellen Blütenduft hinausflog.“ Und die kleine Biene wurde einen Augenblick ganz still, weil sie an ihren ersten Ausflug denken mußte. Aber dann wollte sie wissen, wie die großen Flügel des Schmetterlings in der kleinen Hülle hätten wachsen können.

Fritz erklärte es ihr.

„Sie sind leicht und fein zusammengelegt, wie die Blütenblätter einer Blume in einer Knospe. Wenn es hell und warm wird, muß die Blume sich öffnen, sie kann nicht anders, und ihre Blätter entfalten sich. So ist es auch mir mit meinen Flügeln gegangen. Niemand kann widerstehn, wenn die Sonne scheint.“

„Doch,“ sagte Maja, „das ist wahr.“ Nachdenklich betrachtete sie den weißen Schmetterling, wie er im goldenen Morgenlicht saß, gegen den blauen Himmel.

„Man sagt uns oft nach, wir seien leichtsinnig,“ sagte Fritz, „aber im Grunde sind wir nur glücklich. Sie glauben nicht, wie ernst ich oft über das Leben nachdenke.“

„Was haben Sie alles ausgedacht?“ fragte Maja.

„Über die Zukunft denke ich nach,“ sagte der Schmetterling, „sie ist sehr interessant. Aber nun will ich fliegen, die Wiesen am Berghang stehn voll Glockenblumen und Schafgarbe, alles blüht dort; ich möchte dabei sein, wissen Sie.“

Maja verstand das gut, und sie verabschiedeten sich und flogen nach verschiedenen Seiten davon, der weiße Schmetterling lautlos und schaukelnd, als trüge ihn der sanfte Wind, und die kleine Maja mit ihrem sorgenvollen Summen, das wir an schönen Tagen über den Blumen hören und nie vergessen können, wenn wir an den Sommer denken.

Neuntes Kapitel

Hannibals Kampf mit dem Menschen

In der Nähe der Baumhöhle, in der die kleine Maja ihre Sommerwohnung aufgeschlagen, hatte sich in der Rinde der Kiefer der Borkkäfer Fridolin mit seiner Familie angesiedelt. Er war ein arbeitsamer und ernster Mann, der viel Sorgfalt auf die Fortpflanzung seiner Familie legte und es auf diesem Gebiet zu hübschen Erfolgen gebracht hatte. Er sah mit Stolz auf etwa fünfzig regsame Söhne zurück, die alle zu den besten Hoffnungen berechtigten. Sie gruben sich unter der Baumrinde jeder seinen kleinen gewundenen Kanal und fühlten sich darin wohl.

„Meine Frau hat es so eingerichtet, daß keiner dem anderen in die Quere kommt“, sagte Fridolin zu Maja. „Meine Söhne kennen sich noch nicht, ihre Lebenswege gehn alle nach verschiedenen Richtungen.“

Maja kannte Fridolin schon lange. Sie wußte wohl, daß die Menschen ihn und sein Geschlecht nicht eben liebten, aber sie selbst fand sein Wesen und seine Gesinnungsart sehr liebenswürdig und hatte bisher nicht Grund gehabt, ihn zu meiden. Morgens, wenn der Wald noch schlief und die Sonne noch nicht aufgegangen war, hörte sie oft sein feines Pochen und Bohren, ganz leise klang es wie ein feines Rieseln, oder als atmete der Baum im Schlaf. Später fand sie dann den dünnen braunen Staub, den er aus seinem Gang geschafft hatte.

Eines Morgens kam er früh zu ihr, wie er es oft tat, und erkundigte sich danach, ob Maja gut geschlafen habe.

„Fliegen Sie heute nicht?“ fragte er.

„Nein,“ sagte Maja, „es ist zu windig.“

Das war es in der Tat. Der Wald brauste und schüttelte seine Äste wild und aufgeregt, und die Blätter an seinen Zweigen sahen aus, als ob sie fortflattern wollten. Jedesmal, wenn wieder ein Windstoß kam, wurde es etwas heller umher, und man hatte den Eindruck, als wären die Bäume um vieles kahler. In der Kiefer, auf der Fridolin und Maja lebten, pfiffen die Stimmen des Windes mit ganz hellem Sausen, es klang, als ob der Baum erregt und zornig sei.

Fridolin seufzte. „Ich habe die ganze Nacht gearbeitet,“ erzählte er, „was bleibt einem übrig? Man muß sehn, daß man etwas erreicht. Ich bin auch mit dieser Kiefer nicht recht zufrieden, ich hätte mich an eine Tanne heranmachen sollen.“ Er trocknete sich die Stirn und lächelte nachsichtig.

„Wie geht es Ihren Kindern?“ fragte Maja freundlich.

Fridolin dankte. „Ich überseh die Sache nicht mehr recht,“ sagte er zögernd, „aber ich gebe mich der Hoffnung hin, daß alle gedeihn.“

Wie er so dasaß, ein kleiner brauner Mann, mit seinem Brustschild, das aussah wie ein viel zu großer Kopf, und seinen kurzen, etwas gestutzten Flügeldecken, fand Maja, daß er beinahe etwas komisch wirkte, aber sie wußte wohl, daß er ein gefährlicher Käfer war und den mächtigen Waldbäumen großen Schaden tun konnte. Fiel sein Volk in großen Scharen über einen Baum her, so war es bald um seine grünen Nadeln geschehen, er mußte welken und sterben und hatte keine Mittel, sich gegen die kleinen Räuber zu wehren, die ihm seine Rinde zerstörten, durch die der Saft in die Wipfel steigt. Man erzählte, daß seinem Volke schon ganze Wälder zum Opfer gefallen seien. Maja betrachtete ihn nachdenklich, und ihr ward ganz feierlich zumute, wenn sie bedachte, wie bedeutungsvoll und mächtig dies kleine Tier werden konnte.

Da seufzte Fridolin und sagte bekümmert. „Ach, das Leben wäre schön, wenn es keine Spechte gäbe.“

„Ja, ja,“ nickte Maja, „der Specht, das ist wahr, er frißt auf, was er findet.“

„Wenn es nur das wäre,“ meinte Fridolin, „wenn leichtsinnige Leute, die sich außen auf der Rinde umhertreiben, ihm als Beute zufielen, würde ich sagen: Gut, schließlich will auch ein Specht leben. Aber ich finde es unverantwortlich, daß dieser Vogel einen bis unter die Rinde verfolgt, bis in die Schlupfwinkel und bis tief in unsere Gänge hinein.“

„Nein,“ sagte Maja, „das kann er nicht. Dazu ist er zu groß, soviel ich weiß.“

Fridolin sah Maja mit hochgezogenen Brauen an und nickte ein paarmal gewichtig mit dem Kopf. Es machte ihm offenbar Spaß, daß er etwas besser wußte.

„Zu groß?“ fragte er, „wer spricht von seiner Größe? Nein, meine Liebe, seine Größe ist es nicht, die uns besorgt macht, sondern seine Zunge.“

Maja machte große Augen, und nun erfuhr sie von Fridolin, daß der Specht eine lange dünne Zunge hat, rund wie ein Wurm, und spitz und klebrig. „Zehnmal so lang, wie ich es bin, kann er sie mindestens herausstrecken“, rief der Borkkäfer und schwenkte den Arm. „Man denkt, jetzt ist sie zu Ende, da wird sie noch länger. Er schiebt sie, gewissenlos wie er ist, tief in alle Spalten und Risse der Rinde und denkt: vielleicht sitzt jemand darin. Sogar in unsere Kanäle dringt diese Zunge ein, Gott weiß es, und was mit ihr in Berührung kommt, klebt daran fest und wird herausgezogen.“

„Ich bin nicht feige,“ sagte Maja, „bestimmt nicht, aber diese Tatsache macht mich doch recht besorgt.“

„Ach, Sie mit Ihrem Stachel haben es gut“, meinte Fridolin nicht ohne Neid. „Jeder besinnt sich, eh er sich in die Zunge stechen läßt, fragen Sie, wen Sie wollen. Aber was soll unsereiner sagen? Meine Cousine hat es durchgemacht. Wir hatten vorher einen kleinen Streit wegen meiner Frau gehabt, ich weiß noch alles genau, sie war bei uns auf Besuch und kannte die Wohnungsverhältnisse noch nicht so recht. Mit einmal hören wir den Specht scharren und klopfen, es war einer von den kleineren Sorten. Er muß grade bei unserem Bau angefangen haben, sonst hört man ihn gewöhnlich schon vorher und bringt sich in Sicherheit. Plötzlich höre ich meine bedauernswerte Cousine aus dem Dunkel schrein: ‚Fridolin, ich klebe!‘ Ich vernahm noch ein verzweifeltes Zappeln, dann wurde es still, und der Specht hämmerte schon nebenan. Um meine Cousine war es geschehn, sie war bereits verschlungen. Sie hieß Agathe.“

„Fühlen Sie mal, wie mein Herz klopft,“ sagte Maja leise, „Sie hätten es nicht so rasch erzählen sollen. Was doch alles passiert in der Welt!“ Und die kleine Biene dachte an ihre eigenen Erlebnisse, die zurücklagen, und an alles, was ihr vielleicht noch begegnen könnte.

Da fing plötzlich Fridolin an zu lachen.

Maja sah sich überrascht nach ihm um.

„Passen Sie auf,“ rief er, „jetzt kommt der Richtige den Baum herauf, das ist einer, sage ich Ihnen. Nun, Sie werden ja sehn.“

Maja folgte seinen Blicken und sah ein merkwürdiges Tier langsam den Baum emporklimmen. Sie hatte niemals für möglich gehalten, daß es solche Tiere gab. Aber größer als ihr Erstaunen war anfangs ihre Angst, und sie fragte Fridolin hastig, ob man sich verbergen müßte.

„Kein Gedanke,“ sagte der Borkkäfer, „bleiben Sie getrost sitzen und begrüßen Sie den Herrn höflich. Er ist sehr gelehrt und hat wirklich ernste Kenntnisse, dabei ist er gutherzig und bescheiden und wie alle Leute, die so beschaffen sind, etwas komisch. Schauen Sie, was er tut!“

„Wahrscheinlich denkt er nach“, meinte Maja, die nicht aus dem Erstaunen herauskam.

„Er kämpft gegen den Wind,“ sagte Fridolin und lachte, „wenn ihm nur seine Beine nicht durcheinandergeraten.“

„Sind denn diese langen Fäden wirklich seine Beine“, fragte Maja mit großen Augen. „So was hab’ ich nie gesehn.“

Inzwischen war der Fremde näher gekommen, und Maja sah ihn genauer. Eigentlich sah es aus, als käme er durch die Luft, so hoch hing sein kleiner, rundlicher Körper in den ungeheuer langen Beinen, die wie ein fadendünnes, bewegliches Gestell, weit von ihm ab, nach allen Seiten hin Halt suchten. Er schritt vorsichtig und tastend voran, dabei schwankte das braune Kügelchen seines Körpers bald höher hinauf, bald wieder hinab. Die Beine waren so lang und dünn, daß ein einzelnes sicher den Körper nicht hätte tragen können, er brauchte sie unbedingt alle zusammen, und da sie in der Mitte geknickt waren, überragten sie ihn hoch bis in die Luft hinein.

Maja schlug die Hände zusammen.

„Nein so was!“ rief sie. „Aber hätten Sie für möglich gehalten, daß so zarte Beine, dünn wie Haare, so beweglich und nützlich sein können, daß man sie wirklich gebrauchen kann, und daß sie wissen, was sie tun sollen? Ich finde, das ist ein Wunder, Fridolin.“

„Ach was,“ sagte der Borkkäfer, „wenn etwas komisch ist, so lacht man, damit basta.“

„Ich habe aber keine Lust dazu,“ antwortete Maja, „oft lacht man über etwas, und später stellt sich heraus, daß man es nur nicht verstanden hat.“

Da war der Fremde herangekommen, er schaute von der Höhe seiner Beine, aus all den spitzen Dreiecken heraus, auf Maja nieder und sagte: „Guten Morgen! Ein rechter Brausewind, meine zwei Herrschaften, ein Zuglüftlein recht derber Art, nicht wahr, oder — wie? Meinten Sie vielleicht etwas anderes?“ Und er hielt sich fest, so gut er konnte.

Fridolin verbarg sein Lachen, aber die kleine Maja antwortete höflich, das sei auch ihre Meinung, deshalb sei sie heute nicht ausgeflogen. Dann stellte sie sich vor. Der Fremde schielte durch seine Knie hindurch auf sie nieder.

„Maja, vom Volk der Bienen,“ wiederholte er, „das freut mich aufrichtig, ich habe viel von den Bienen gehört. Ich muß Ihnen gestehn, daß ich immer etwas in Verlegenheit gerate, wenn ich mich jemandem vorstellen soll, denn unsere sehr verbreitete Familie ist unter den verschiedensten Namen bekannt. Man nennt uns Weberknechte, Schneider oder Schuster. Jedenfalls gehöre ich zur Gattung der Spinnen, und mein Rufname ist Hannibal.“

Die Namen der Spinnen haben einen bösen Klang bei allen kleineren Insekten, Maja konnte ihren Schreck nicht ganz verbergen, zumal sie ihrer Gefangenschaft bei der Spinne Thekla gedachte; aber Hannibal schien nichts davon zu merken. Sie dachte, wenn es sein muß, flieg’ ich, da kann er mir nachschauen, Flügel hat er nicht, und sein Netz ist anderswo.

„Ich bin in Gedanken, sehr in Gedanken,“ sagte Hannibal, „wenn Sie erlauben, trete ich etwas näher, dort hinter dem großen Ast bin ich geschützt.“

„Bitte schön“, sagte Maja und machte Platz. Fridolin verabschiedete sich, aber die kleine Biene wollte nun doch gerne wissen, was es mit Hannibal für eine Bewandtnis hätte. Was es doch alles für Tiere in der Welt gibt, dachte sie, immer wieder entdeckt man irgendein neues.

Der Wind hatte etwas nachgelassen, und die Sonne schien durch die Baumzweige. Irgendwo unten im Buschwerk stimmte ein Rotkehlchen sein Lied an und erfüllte den Wald mit Glück. Maja konnte es auf einem Zweig sitzen sehen, sie sah, wie die Kehle sich beim Singen bewegte, und der Vogel hatte sein Köpfchen emporgerichtet gegen das Licht.

„Wenn ich doch singen könnte,“ sagte die kleine Maja, „so wie dort das Rotkehlchen, ich setzte mich auf eine Blume und täte es den ganzen Tag.“

„Dabei würde etwas Nettes herauskommen,“ meinte Hannibal, „Sie mit Ihrem Gesumm.“

„Der Vogel sieht so glücklich aus“, sagte die Biene.

„Sie sind eine phantastische Person“, meinte der Weberknecht. „Wenn alle Tiere sich etwas anderes wünschten, als sie können, so würde bald die Welt auf dem Kopf stehen. Denken Sie sich, ein Rotkehlchen glaubte, es müßte partout einen Stachel haben, oder eine Ziege wollte herumfliegen und Honig sammeln. Dann käme am Ende noch der Frosch und wünschte sich solche Beine, wie ich sie habe.“

Maja lachte.

„Nein, das meine ich nicht,“ sagte sie, „aber ich denke es mir wunderschön, alle Wesen so glücklich machen zu können, wie dieser Vogel es durch seinen Gesang kann. Aber was ist denn das,“ rief sie plötzlich in großer Verwunderung, „Herr, Sie haben ja ein Bein zuviel. Sie haben sieben Beine.“

Hannibal runzelte die Stirn und schaute unwillig vor sich hin.

„Jetzt haben Sie es also glücklich doch gemerkt“, sagte er verstimmt. „Allerdings habe ich kein Bein zuviel, sondern eins zuwenig.“

„Ja, haben Sie denn sonst acht Beine?“ fragte Maja erstaunt.

„Wenn Sie erlauben,“ meinte Hannibal, „wir Spinnen haben acht Beine. Wir brauchen sie, und auch sonst — es ist vornehmer. Mir ist eins abhanden gekommen, schade um das Bein, aber schließlich hilft man sich, so gut man kann.“

„Es muß sehr unangenehm sein, ein Bein zu verlieren“, sagte Maja teilnehmend.

Hannibal stützte das Kinn in die Hand und stellte seine Beine so, daß es schwer war, sie zu überzählen.

„Ich werde Ihnen mitteilen,“ sagte er, „wie es gekommen ist. Natürlich ist der Mensch dabei im Spiel, wie gewöhnlich, wenn etwas passiert. Unsereiner sieht sich vor, aber der Mensch ist unvorsichtig und greift mitunter zu, als ob man ein Stück Holz wäre. Soll ich Ihnen erzählen, wie sich dieser beklagenswerte Vorfall zugetragen hat?“

„Ach bitte,“ sagte Maja und setzte sich zurecht, „das wäre mir sehr interessant. Sie haben sicher ungemein viel erfahren.“

„Das ist richtig,“ sagte Hannibal, „jetzt passen Sie auf. Unser Geschlecht gehört zu den Nachtvölkern, darüber werden Sie unterrichtet sein. Ich lebte damals in einem grünen Gartenhaus, das außen mit Efeu bewachsen war und in dem sich manche zerbrochene Fensterscheibe befand, so daß ich bequem ein und aus konnte. Wenn es dunkel wurde, kam der Mensch durch den Garten, trug seine künstliche Sonne, die er Lampe nennt, in der einen Hand, in der anderen eine Flasche und unter dem Arm Papier, außerdem hatte er noch eine kleine Flasche in der Tasche. Er stellte alles auf den Tisch und fing an nachzudenken, weil er seine Ansichten auf das Papier schreiben wollte. Sie werden sicher schon Papier gefunden haben, im Wald oder im Garten. Das Schwarze darauf hat der Mensch sich ausgedacht.“

„Fabelhaft“, sagte Maja ganz glücklich, daß sie so viel erfahren sollte.

„Zu diesem Zweck“, erklärte Hannibal weiter, „braucht der Mensch seine beiden Flaschen. In die kleine steckt er einen Holzstab, aus der großen trinkt er. Je mehr er trinkt, um so besser geht es voran. Er schreibt natürlich über uns, alles was er weiß, und ist sehr eifrig, aber viel kommt nicht dabei heraus, denn der Mensch hat bisher über uns Insekten nur recht wenig in Erfahrung gebracht. Über unser Seelenleben weiß er fast nichts, und auf unser Herz und seine Ängste nimmt er nicht die kleinste Rücksicht. Sie werden hören.“

„Denken Sie nicht gut vom Menschen?“ fragte Maja.

„Doch, doch,“ antwortete der Weberknecht und schaute schräg vor sich nieder, „aber mit sieben Beinen wird man bitter.“

„Ach so“, sagte Maja.

„Eines Abends“, fuhr Hannibal fort, „war ich wie gewöhnlich in den Fensterwinkeln auf der Jagd, und der Mensch saß vor seinen beiden Flaschen und versuchte etwas zustande zu bringen. Ich ärgerte mich schon darüber, daß eine große Anzahl der kleinen Fliegen und Mücken, von deren Fang ich zu meinem Lebensunterhalt abhängig bin, sich auf die künstliche Sonne des Menschen gesetzt hatte und hineinglotzte, ungebildet, wie solche Tiere nun einmal sind.“

„Na,“ meinte Maja, „ansehen würde ich mir so was schließlich auch mal.“

„Ansehen, meinetwegen. Aber ansehen ist etwas ganz anderes wie glotzen. Schauen Sie sich doch einmal die Torheiten an, die dies Gesindel bei einer Lampe treibt. Daß sie zwanzigmal mit dem Kopf dagegenrennen, ist noch eine Kleinigkeit, manche tun es so lange, bis sie sich ihre Flügel verbrannt haben. Dabei glotzen sie ununterbrochen das Licht an.“

„Die armen Tiere,“ meinte Maja, „offenbar können sie sich nicht mehr zurechtfinden.“

„Dann bleiben sie besser in den Fensternischen oder unter den Blättern sitzen,“ sagte Hannibal, „dort sind sie vor der Lampe sicher und dort kann ich sie fangen. In jener verhängnisvollen Nacht nun sah ich von der Fensternische aus vereinzelte Mücken neben der Lampe in den letzten Zügen liegen. Ich beobachtete, daß dem Menschen scheinbar nichts daran gelegen war, und beschloß, sie mir zu holen. Ist etwas in der Welt begreiflicher?“

„Nein“, sagte Maja.

„Und doch, es wurde mein Unglück. Leise und vorsichtig kroch ich am Tischbein empor, bis ich über den Rand schauen konnte. Der Mensch erschien mir fürchterlich groß, und ich betrachtete, was er tat. Langsam setzte ich ein Bein vor das andere und näherte mich der Lampe. Solange ich Deckung hinter der Flasche hatte, ging alles gut, aber kaum trat ich hinter dem Glas hervor, als der Mensch auch schon aufblickte und nach mir griff. Er nahm eins meiner Beine zwischen seine Finger, hob mich daran empor bis dicht vor seine großen Augen und sagte: ‚Ei, sieh da!‘ Und dabei grinste dieser Grobian über das ganze Gesicht, als ob es sich um ein Vergnügen handelte.“

Hannibal seufzte und die kleine Maja war ganz still. Endlich fragte sie mit heißem Kopf.

„Hat der Mensch so große Augen?“

„Denken Sie jetzt gefälligst an mich und an meine Lage“, rief Hannibal erregt. „Versuchen Sie, sich meinen Gemütszustand vorzustellen. Wer hängt gerne an einem Bein vor Augen, die etwa zwanzigmal so groß sind, wie sein eigener Körper? Jeder der Zähne, welcher aus dem Mund des Menschen weiß hervorblitzte, war doppelt so groß wie ich. Nun, was denken Sie?“

„Schrecklich,“ sagte Maja, „also entsetzlich!“

„Da riß gottlob mein Bein. Es ist nicht abzusehen, was alles geschehen wäre, wenn es gehalten hätte. Ich fiel und lief, so rasch mich meine übrigen Beine trugen, und versteckte mich hinter der Flasche, in deren Schutz ich die furchtbarsten Drohungen gegen den Menschen ausstieß. Deshalb verfolgte er mich weiter nicht. Ich sah, wie er mein Bein auf das weiße Papier legte und zusah, wie es fortlaufen wollte, was es aber ohne mich nicht kann.“

„Bewegte es sich noch?“ fragte Maja erschrocken.

„Ja,“ erklärte ihr Hannibal, „das tun unsere Beine immer, nachdem sie ausgerissen worden sind. Mein Bein lief, aber weil ich nicht dabei war, wußte es nicht wohin. So zappelte es nur planlos auf demselben Fleck herum, und der Mensch sah zu, faßte seine Nase an und lächelte dabei, herzlos wie er ist, über das Pflichtbewußtsein meines Beins.“

„Das ist unmöglich,“ sagte die kleine Biene ganz eingeschüchtert, „ein abbes Bein kann nicht krabbeln.“

„Was ist ein abbes Bein?“ fragte Hannibal.

Maja sah ihn an. „Das ist ein Bein, das ab ist,“ erklärte sie, „bei uns zu Haus sagte man so.“

„Ihre Ausdrücke aus der Kinderstube gewöhnen Sie sich im großen Leben und vor gebildeten Leuten besser ab“, forderte Hannibal mit Strenge. „Man sagt ein ausgerissenes Bein. Jedenfalls ist es wahr, daß unsere Beine noch lange zappeln, nachdem sie ausgerissen sind.“

„Nein,“ sagte Maja, „das glaub’ ich nicht ohne Beweis.“

„Meinen Sie, ich risse mir Ihretwegen ein Bein aus?“ fragte Hannibal böse. „Ich merke schon, daß man mit Ihnen nicht verkehren kann. So etwas hat mir noch niemand zugemutet, hören Sie.“

Maja wurde ganz befangen, sie begriff nicht, weshalb der Weberknecht so verdrießlich wurde und wo ihre Schuld lag. Es ist gar nicht so leicht, mit fremden Leuten zu verkehren, dachte sie, sie denken anders und begreifen oft nicht, daß man es nicht böse meint. Sie wurde traurig und sah bekümmert auf die große Spinne mit ihren langen Beinen und ihrem grämlichen Gesichtsausdruck.

„Eigentlich sollte man den Versuch machen, Sie zu fressen“, sagte da plötzlich der Weberknecht, der offenbar die Gutmütigkeit Majas für Schwäche gehalten hatte. Aber da geschah es der kleinen Biene ganz seltsam, ihre Trauer war plötzlich verflogen, und an Stelle von Schreck oder Furcht stieg ein ruhiger Mut in ihrem Herzen empor. Sie richtete sich ein wenig auf, und während sie ihr hohes helles Summen ausstieß, fast ohne zu wissen, daß sie es tat, sagte sie mit glänzenden Augen und hob ihre schönen durchsichtigen Flügel ein wenig:

„Ich bin eine Biene, mein Herr.“

„Pardon“, sagte Hannibal, drehte sich ohne Gruß um und lief den Stamm so rasch hinunter, wie man nur irgend mit sieben Beinen laufen kann.

Maja mußte lachen, ob sie wollte oder nicht. Unten begann Hannibal laut zu schelten.

„Sie haben einen schlechten Charakter,“ rief er aufgeregt, „Sie gehen mit Ihrem Stachel gegen Leute vor, die durch harte Schicksalsschläge daran behindert sind, sich in gewohnter Weise von der Stelle zu bewegen. Aber Ihre Stunde wird schlagen, und sobald Sie in Bedrängnisse geraten, werden Sie an mich denken und alles bereuen.“

Er verschwand unter den Huflattichblättern am Boden. Die kleine Biene hatte nicht mehr alles verstanden, ihr war wohl zumut, zumal der Wind fast ganz nachgelassen hatte und der Tag schön zu werden versprach. Hoch am Himmel zogen weiße Wolken im tiefen Blau, sie sahen still und glücklich aus, wie gute Gedanken Gottes. Und heiß und unwiderstehlich überfiel die kleine Biene die Sehnsucht nach dem satten Schattengrund der Waldwiesen und nach den besonnten Hängen jenseits des großen Sees, dort mußte längst ein frohes Leben begonnen haben. Sie sah die schlanken Gräser schaukeln, und am Waldrand wuchsen in den schmalen Wassergräben hohe gelbe Schwertlilien. Von ihren Kelchen sah man hinüber in die geheimnisvolle Nacht des Tannenwaldes, aus dem es kühl und traurig wehte. Sie wußte, in seiner finstern Stille, die den Sonnenschein in ein rötliches Schlummerlicht verwandelte, lag das Heimatland der Märchen.

Da flog sie schon durch die Luft. Es war ihr gar nicht recht zum Bewußtsein gekommen, daß sie aufgeflogen war. Die Waldwiesen und ihre Blumenhänge hatten sie gerufen. O du lieber Gott, dachte sie, wie herrlich ist es, zu leben.

Zehntes Kapitel

Die Wunder der Nacht

So verlebte die kleine Maja unter den Insekten die Tage und Wochen ihres jungen Lebens. Wohl vermißte sie bei ihrem Umhertreiben, bei allen Freuden und Gefahren, in der schönen sommerlichen Welt oft die Gefährten ihrer ersten Kindheit, und zuweilen überfiel sie ein schmerzvolles Heimweh nach dem verlassenen Königreich ihres Volkes. Auch kannte sie Stunden, in denen sie sich nach einer geordneten Tätigkeit sehnte, nach nützlicher Beschäftigung und nach Gesellschaft unter ihresgleichen. Aber sie hatte im Grunde eine ruhlose Natur, die kleine Maja, und sie würde sich wohl kaum schon dauernd in der Gemeinschaft der Bienen wohlgefühlt haben. Bei allen Tieren, wie auch unter den Menschen, kommt es vor, daß einzelne Charaktere sich nicht in die Gewohnheiten aller schicken können, und man muß vorsichtig sein und ernstlich prüfen, bevor man solch ein Wesen verurteilt. Denn es ist keineswegs immer nur Trägheit oder Eigensinn, sondern häufig verbirgt sich hinter solchem Drang eine tiefe Sehnsucht nach Höherem oder Besserem, als der Alltag zu bieten vermag, und aus jungen Durchgängern sind oft erfahrene und kluge Männer geworden oder verständige und gütige Frauen. Und die kleine Maja hatte im Grunde ein reines und empfängliches Herz, und ihre Stellung zur schönen weiten Welt, in der sie zum Leben erwacht war, war getragen von aufrichtiger Wißbegier und großer Freude an den Herrlichkeiten der Schöpfung.

Aber selbst im Glück schöner Erlebnisse ist das Alleinsein schwer, und je erfahrener die kleine Maja wurde, um so häufiger sehnte sie sich nach Gemeinschaft und Liebe. Sie war nun keine ganz junge Biene mehr, sondern ein prächtiges, starkes Bienentier, begabt mit blanken, gesunden Flügeln, einem spitzen und gefährlichen Stachel und einem ausgebildeten Sinn für die Gefahren und Freuden ihres Lebens. Sie hatte Erfahrungen gemacht und Kenntnisse gesammelt und wünschte sich nun oft, sie auf rechte Art verwenden zu können. Vielleicht wäre sie eines Tages in den Stock zurückgekehrt, hätte sich der Königin zu Füßen geworfen und ihre Verzeihung erfleht, um wieder in Ehren aufgenommen zu werden. Aber ein brennendes Verlangen hielt sie davon zurück: sie wünschte sich, den Menschen kennenzulernen. Sie hatte so viel Widersprechendes über die Menschen gehört, daß sie eher verwirrter als klüger geworden war, und doch ahnte sie, daß es in der ganzen Schöpfung nichts Mächtigeres, Klügeres und Erhabeneres als den Menschen gäbe.

Aus hoher Luft, aus weiter Entfernung hatte sie auf ihren Irrfahrten wohl zuweilen Menschen gesehen, schwarze, weiße und rote, auch solche, die vielfarbig und bunt bekleidet waren, kleine und große. Aber sie hatte sich niemals in die Nähe getraut. Einmal sah sie es rot am Bach schimmern, und da sie den Schein der Farbe für ein Blumenbeet hielt, war sie hinzugeflogen. Da fand sie einen Menschen mit goldenen Haaren und rosigem Angesicht. Er schlief in einem roten Kleid in den Blumen am Bach und sah trotz seiner furchtbaren Größe so gut und lieblich aus, daß ihr vor Entzücken Tränen in die Augen traten. Sie hatte alles um sich her vergessen und nur immer den schlummernden Menschen betrachten müssen. Was sie jemals an Bösem darüber gehört hatte, erschien ihr unmöglich, es war ihr, als müßte alles Schlechte Lüge gewesen sein, was man ihr jemals über solch liebliche Wesen berichtet hatte, wie dort eines im Schatten der flüsternden Birken schlief.

Später kam eine Mücke zu ihr und grüßte.

„Mein Gott,“ rief Maja, ganz heiß vor Erregung und Freude, „sehen Sie dort den Menschen, wie schön, wie gut. Begeistert es Sie nicht?“

Die Mücke sah erst Maja sehr erstaunt an und drehte sich dann langsam nach dem Gegenstand ihrer Bewunderung um:

„Ja,“ sagte sie, „er ist gut, gewiß, ich habe ihn eben angebohrt. Schauen Sie, mein Leib schimmert rot von seinem Blut.“

Maja mußte ihrem Herzen mit der Hand zur Hilfe kommen, so sehr erschrak sie über die Kühnheit der Mücke.

„Wird er sterben?“ rief sie. „Wo haben Sie ihn verletzt? Wie können Sie nur den erforderlichen Mut und zugleich eine so unwürdige Gesinnung aufbringen? Sie sind ja ein Raubtier!“

Die Mücke lachte und antwortete mit ihrem hohen hellen Stimmchen sichtlich amüsiert:

„Dies ist doch nur ein ganz kleiner Mensch. Diese Größe wird Mädchen genannt, sobald die Beine bis zur Hälfte von einem abstehenden farbigen Panzer bedeckt sind. Ich kann natürlich hindurchstechen, aber in der Regel erreicht man die Haut nicht. — Sie haben ja eine ganz fabelhafte Unkenntnis, glauben Sie denn, die Menschen seien gut? Ich habe niemals einen gefunden, der mir freiwillig auch nur das kleinste Tröpfchen Blut gegönnt hätte.“

„Vom Menschen weiß ich allerdings noch nicht sehr viel“, sagte Maja kleinlaut.

„Aber Sie geben sich doch von allen Insekten am meisten mit den Menschen ab, Sie lassen sich am weitesten mit ihnen ein, das ist doch bekannt.“

„Ich habe das Königreich verlassen“, gestand Maja schüchtern. „Es gefiel mir nicht, ich wollte die Welt kennenlernen.“

„I, da sieh einer an“, sagte die Mücke und trat einen Schritt näher. „Wie bekommt Ihnen denn Ihr Umhertreiben? Ich muß sagen, daß es mir gefällt, Sie so unabhängig zu sehen. Ich für mein Teil würde mich niemals entschließen, den Menschen zu dienen.“

„Sie dienen auch uns“, sagte Maja, die es nicht ertragen konnte, daß man ihr Volk herabsetzte.

„Mag sein,“ antwortete die Mücke, „zu welchem Volk gehören Sie?“

„Ich stamme vom Volk der Bienen im Schloßpark. Die regierende Königin ist Helene die Achte.“

„So, so,“ machte die Mücke und verbeugte sich, „das ist eine beneidenswerte Abstammung. Alle Achtung. Sie hatten kürzlich Revolution, nicht wahr? Ich hörte das durch die Kundschafter des Schwarms, der ausgebrochen war. Habe ich recht?“

„Ja“, sagte Maja stolz. Es erfüllte sie mit Genugtuung und Freude, daß die Ihren so hohes Ansehen genossen und weit bekannt waren. Tief im Herzen wachte wieder das Heimweh nach ihrem Volke auf, sie wünschte sich, etwas Großes und Gutes für ihre Königin und zum Wohl ihres Staates tun zu können. Darüber vergaß sie nach dem Menschen zu fragen. Vielleicht fragte sie auch deshalb nicht mehr, weil sie von der Mücke nichts Gutes zu hören hoffte. Sie empfand die Kleine als frech und naseweis, und solche Leute wissen gewöhnlich über andere nur Schlechtes zu sagen.

Die Mücke war damals auch bald weitergeflogen.

„Ich nehme noch einen Schluck“, hatte sie gerufen. „Später werde ich mit den Gefährten in der Abendsonne fliegen, damit wir morgen gutes Wetter bekommen.“

Maja hatte sich davongemacht, weil es ihr unmöglich war, mit anzusehen, wie die Mücke dem schlafenden Kind Böses zufügte. Sie wunderte sich, daß die Mücke nicht daran zugrunde ging. Kassandra hatte ihr gesagt. „Wenn du einen Menschen stichst, mußt du sterben.“

Maja erinnerte sich dieses Vorfalls noch sehr genau, aber ihr Verlangen danach, vom Menschen soviel als möglich kennenzulernen, war keinesfalls befriedigt, sie beschloß, kühner zu werden und keine Anstrengungen zu scheuen, um zu ihrem Ziel zu gelangen.

Diese Wünsche Majas sollten sich auf wunderbare Art erfüllen und viel schöner, als sie es erwartet hatte. Die kleine Biene war an einem warmen Sommerabend früher als gewöhnlich zur Ruhe gegangen, und plötzlich erwachte sie mitten in der Nacht, das war ihr noch niemals geschehen. Ihr Erstaunen war unbeschreiblich, als sie die Augen öffnete und ihren kleinen Schlafraum über und über in ein stilles blaues Licht getaucht sah. Es sank vom Eingang nieder, dessen Öffnung wie unter einem silberblauen Vorhang strahlte. Sie wagte sich anfangs kaum zu rühren, aber sie fürchtete sich nicht, denn mit diesem Schein kam ein seltsam schöner Friede zu ihr hineingezogen. Und es klang etwas draußen in der Luft, was sie so fein und so voller Harmonie noch niemals vernommen hatte. Endlich trat sie schüchtern und ganz benommen vom Glanz dieser ungewöhnlichen Stunde an den Ausgang ihrer Baumhöhle und sah hinaus. Ihr war, als sei die ganze Welt durch ein Wunder verzaubert. Überall glitzerte und funkelte es von reinstem Silber, tausend helle Perlen leuchteten matt und selig im Gras, das in der Ferne wie unter feinen Schleiern lag, die Stämme der Birken und die schlafenden Blätter waren mit Silber übermalt. Und alles umher, und in der stillen, seligen Weite, war in ein sanftes blaues Licht gehüllt.

„Das ist die Nacht, das kann nur die Nacht sein“, flüsterte die kleine Maja und faltete die Hände.

Am hohen Himmel, ein wenig verhüllt durch die Blätter eines Buchenastes, stand eine volle, klare Silberscheibe, von der das Licht niedersank, das die ganze Welt verschönte. Erst nun erkannte Maja, daß um den Mond her eine unzählige Menge heller harter Lichtlein am Himmel brannten, schöner und stiller als alles, was sie jemals an Glanz gesehen hatte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte vor Glück, daß sie die Nacht, den Mond und die Sterne und ihre lieblichen Wunder erlebte. Sie hatte von alledem nur gehört und niemals recht daran geglaubt.

Da vernahm sie wieder in ihrer Nähe ganz laut und weithin schallend den seltsamen Nachtgesang, der sie geweckt haben mußte. Es war ein schwingendes Zirpen in einem hellen Silberton, fast hätte man glauben können, daß das Licht vom Mond im Niederrieseln dies Klingen mit sich brachte. Sie schaute sich um und suchte nach der Ursache, aber im heimlichen Widerspiel von Licht und Schatten war es sehr schwer, etwas deutlich zu erkennen; alles war geheimnisvoll verhüllt und doch so wahr und heldenhaft schön.

Es hielt die kleine Maja nicht länger in ihrem Versteck, sie mußte hinaus in diese neue Pracht der Welt. Der liebe Gott wird mich behüten, dachte sie, ich habe ja nichts Böses vor.

Eben wollte sie davonfliegen, um in das blaue Licht über der Wiese zu kommen, auf die der volle Mond schien, als sie dicht in ihrer Nähe auf einem Buchenblatt ein kleines geflügeltes Tier ankommen sah, das sie noch niemals gesehen hatte. Und unmittelbar nachdem es angelangt war, richtete es sich auf gegen den Mond, hob den einen schmalen Flügel ein wenig und zog dann mit raschen Strichen sein Beinchen am Rand des Flügels auf und nieder. Es sah aus, als geigte es auf einer versteckten Geige, und richtig entstand jener zirpende Silberton, der die ganze Mondnacht füllte.

„Entzückend,“ flüsterte Maja, „nein, so was ist einfach himmlisch.“

Sie flog rasch hinüber. Die Sommernacht war lau und milde, so daß die kleine Biene nicht spürte, daß es kühler als am Tage war. Als sie auf dem Blatt bei der Fremden anlangte, brach diese jählings ihr Spiel ab, es schien Maja, als sei es noch nie so still gewesen wie nun. Es war gradezu unheimlich. Durch die dunklen Blätter rieselte das weiße, kühle Licht.

„Gute Nacht“, sagte die kleine Maja sehr höflich, denn sie dachte, man müßte ebenso in der Nacht grüßen, wie man es am Tage tut, und sie fügte rasch hinzu. „Entschuldigen Sie, bitte, daß ich störe, aber Ihr Spiel hat etwas so Anziehendes, wenn man es hört, muß man dem Klang nachgehen.“

Die Fremde schaute Maja mit großen Augen an:

„Was sind denn Sie für ein Krabbeltier?“ fragte sie endlich. „So was hab ich noch nie gesehen.“

„Ich bin durchaus kein Krabbeltier,“ sagte die Biene ernst, „ich bin Maja vom Volk der Bienen.“

„Ach, vom Volk der Bienen, so, so …“, sagte die Fremde. „Sie leben am Tage, nicht wahr? Ich habe durch den Igel von Ihrem Geschlecht gehört. Er erzählte mir, daß er am Abend die Toten fräße, die aus Ihrem Stock geworfen werden.“

„Ja,“ sagte Maja mit leisem Bangen, „das ist wahr, Kassandra hat mir davon erzählt, der Igel kommt in der Abenddämmerung, er schmatzt und sucht die Toten. Die Wächter haben es erzählt. Aber verkehren Sie denn mit dem Igel? Der Igel ist doch ein gradezu fürchterliches Untier.“

„Das finde ich nicht“, sagte die Fremde. „Wir Nachtgrillen stehen uns eigentlich ganz gut mit ihm. Natürlich, er versucht es immer wieder, uns zu greifen, aber es gelingt ihm nie. So necken wir ihn oft und treiben unser Spiel mit ihm. Wir nennen ihn Onkel. Leben muß schließlich jeder, nicht wahr? Und solange einer nicht von mir lebt, kann es mir ja gleichgültig sein.“

Maja schüttelte das Köpfchen, sie dachte anders darüber, sie aber wollte die Fremde nicht durch Widerspruch verletzen. So fragte sie freundlich:

„Sie sind also eine Grille?“

„Ja, eine Nachtgrille. Aber Sie dürfen mich nicht länger stören, ich muß spielen. Es ist Vollmond, und die Nacht ist wundervoll.“

„Ach, machen Sie eine Ausnahme,“ bat Maja, „erzählen Sie mir von der Nacht.“

„Die Sommernacht ist das Schönste in der Welt,“ antwortete die Grille, „sie füllt das Herz mit Seligkeit. Was Sie nicht aus meinem Spiel hören, werde ich Ihnen auch nicht erklären können. Warum muß man immer alles wissen? Wir armen Wesen wissen vom Dasein nur ein kleines Teil, aber fühlen können wir die ganze Herrlichkeit der Welt.“

Und sie begann ihr helles, jubelndes Silberspiel, es klang laut und übermächtig, wenn man es so nah hörte, wie Maja saß. Und die kleine Biene saß ganz still in der blauen Sommernacht und hörte zu und dachte sehr tief über das Leben nach.

Da wurde es neben ihr still. Es klirrte leise, und sie sah die Grille in den Mondschein hinausfliegen.

Die Nacht macht so traurig, dachte die kleine Maja.

Sie wollte nun hinunter auf die Blumenwiese. Am Bachrand standen Wasserlilien, sie spiegelten sich in der raschen Flut, die den Mondschein mit sich trug. Es war herrlich anzuschauen. Das Wasser flüsterte und blinkte und die geneigten Lilien schienen zu schlafen. Sie sind eingeschlafen vor lauter Glück, dachte die kleine Biene. Sie ließ sich auf einem weißen Blumenblatt, mitten im Mondschein nieder und konnte den Blick nicht von dem lebendigen Wasser des Baches wenden, das in zitternden Funken aufblitzte und wieder erlosch. Drüben am Ufer schimmerten Birken, und es sah aus, als hingen die Sterne darin.

Wohin fließt nur all dies Wasser, dachte sie. Die Grille hat recht, wir wissen so wenig von der Welt.

Da hörte sie dicht neben sich im Kelch einer Lilie ein feines singendes Stimmchen, so rein und glockenhell, wie sie noch niemals einen irdischen Klang vernommen hatte; ihr Herz begann laut zu klopfen, und ihr Atem stockte.

O, was wird geschehen, dachte sie, was werde ich zu sehen bekommen.

Die Lilie schwankte leicht, dann sah sie, daß eines der Blätter sich am Rande ein wenig nach innen bog und sie erblickte eine ganz kleine, schneeweiße Menschenhand, die sich mit winzigen Fingerchen daran festhielt. Dann tauchte ein blondes Köpfchen auf und ein lichtes, zartes Körperchen in einem weißen Kleid. Es war ein ganz kleiner Mensch, der aus der Lilie emporkam.

Den Schreck und das Entzücken der kleinen Maja kann niemand schildern. Sie saß wie erstarrt da und konnte ihre Augen nicht von dem Anblick wenden, der sich ihr darbot.

Das winzige Menschenwesen erklomm den Rand der Blüte, hob die Ärmchen gegen das Mondlicht und sah mit einem seligen Lächeln in die helle Nacht der Menschenerde. Dann kam ein leises Zittern in das durchscheinende Körperchen, und plötzlich entfalteten sich von den Schultern herab zwei helle Flügel, weißer als das Mondlicht und so rein wie Schnee. Sie überragten das blonde Haupt und sanken bis an die Füße nieder. Nie, nie hat die kleine Maja in ihrem Leben wieder etwas so Liebliches gesehen. Und während das lichte kleine Menschlein so dastand und seine Hände gegen den Himmel reckte, erhob es seine Stimme wieder, und Maja verstand das Lied, das in die Nacht hinausklang:

Meine Heimat ist das Licht.
Heller Himmel meine Freude.
Tod und Leben wechseln beide,
aber meine Seele nicht.

Meine Seele ist der Hauch,
der aus aller Schönheit bricht,
wie aus Gottes Angesicht,
so aus seiner Schöpfung auch.

Die kleine Maja überkam ein heftiges Schluchzen, sie konnte sich nicht erklären, was sie so traurig machte und sie gleichzeitig so beglückte.

Da wandte sich das kleine Menschenwesen nach ihr um:

„Wer weint denn da?“ fragte es mit seiner klaren Stimme.

„Ach, das bin nur ich“, stammelte Maja. „Entschuldigen Sie, daß ich gestört habe.“

„Warum weinst du denn?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte Maja, „vielleicht nur, weil Sie so schön sind. Wer sind Sie, ach sagen Sie es mir, wenn ich nicht zuviel verlange. Sie sind sicher ein Engel.“

„O nein,“ sagte das kleine Wesen und blieb ganz ernst, „ich bin nur ein Blumenelf. Aber du kannst ruhig du zu mir sagen. Was machst denn du kleine Biene in der Nacht draußen auf der Wiese?“

Der Elf flog zu Maja hinüber, setzte sich auf ein gebogenes Lilienblatt, das ihn sanft schaukelte und betrachtete die kleine Biene ernst und freundlich. Und während Maja ihm erzählte, alles was sie wußte und wollte und was sie getan hatte, sahen immer die großen dunklen Augen aus dem weißen Elfengesicht sie an, unter dem goldenen Haar hervor, das im Mond zuweilen wie Silber glänzte.

Der Blumenelf strich Maja über das Köpfchen, als sie ihre Geschichte erzählt hatte und sah sie so innig und liebevoll an, daß die kleine Biene vor Glück die Blicke senken mußte. Und dann erzählte er ihr:

„Wir Elfen leben sieben Nächte, aber wir müssen in der Blume bleiben, in der wir geboren sind. Wenn wir die Blume verlassen, so müssen wir im Morgenrot sterben.“

Maja riß vor Angst und Schrecken die Augen weit auf.

„O rasch, rasch, flieg in deine Blume zurück!“ rief sie.

Der Elf schüttelte traurig den Kopf.

„Nun ist es zu spät,“ sagte er, „aber höre weiter. Die meisten Elfen verlassen ihre Blumen, denn es verbindet sich ein großes Glück damit. Wer seine Blume verläßt und so einen frühen Tod erleidet, der hat zuvor eine wunderbare Macht. Er kann dem ersten Wesen, das ihm begegnet, seinen liebsten Wunsch erfüllen. Wenn er ernstlich den Willen hat, die Blume zu verlassen, um andere zu beglücken, so wachsen ihm zugleich seine Flügel.“

„Ach, wie herrlich,“ rief Maja, „da würde ich auch die Blume verlassen. Das muß wunderschön sein, den liebsten Wunsch eines anderen zu erfüllen.“ Die kleine Biene dachte gar nicht daran, daß sie das erste Wesen war, dem der Elf auf seinem Flug aus der Blume begegnet war.

„Und dann,“ fragte sie, „mußt du dann sterben?“

Der Elf nickte, aber diesmal gar nicht traurig.

„Wir sehen noch das Morgenrot,“ sagte er, „aber wenn der Tau fällt, dann zieht es uns zu den feinen Schleiern hinüber, die über dem Gras der Wiesen schweben. Hast du nicht oft gesehen, daß diese Schleier ganz weiß leuchten, als wäre Licht darin? Das sind die Elfen, ihre Flügel und ihre Kleider. Und mit dem heraufsteigenden Licht verwandeln wir uns in Tautropfen. Die Pflanzen trinken uns und nehmen uns in ihr Blühen und Wachsen auf, bis wir nach Zeiten wieder als Elfen aus ihren Blumenkelchen steigen.“

„So warst du früher schon einmal ein anderer Elf?“ fragte Maja in atemloser Spannung.

Die ernsten Augen nickten ihr zu:

„Ja, aber ich habe es vergessen. Wir vergessen alles in unserm Blumenschlaf.“

„O, dein Los ist lieblich“, rief die kleine Maja.

„Es ist das Los aller Erdenwesen,“ sagte der Elf, „wenn man es weit und groß betrachtet. Auch wenn es nicht immer Blumen sind, in denen sie aus ihrem Todesschlaf erwachen. Aber davon wollen wir heute nicht sprechen.“

„O, ich bin glücklich“, rief Maja.

„So hast du keinen Wunsch?“ fragte der Elf. „Weißt du denn nicht, daß du das erste Wesen bist, das mir begegnet und daß ich deinen liebsten Wunsch erfüllen soll?“

„Ich?“ rief Maja, „aber ich bin doch nur eine Biene. Nein, das ist zuviel Freude für mich, ich habe nicht verdient, daß man so gut gegen mich ist.“

„Niemand verdient das Gute und Schöne,“ sagte der Elf, „es kommt zu uns wie der Sonnenschein.“

Majas Herz klopfte stürmisch. O, sie hatte seit lange einen heißen Wunsch, aber sie wagte es nicht, ihn vorzubringen. Aber der Elf schien es zu ahnen, denn er lächelte so, daß man ihm nichts verschweigen konnte.

„Nun?“ fragte er und strich sich das goldene Haar aus der reinen Stirn.

„Ich möchte die Menschen kennenlernen, wie sie am schönsten sind“, sagte die kleine Biene heiß und rasch und fürchtete, sie würde hören, daß man einen so großen Wunsch nicht erfüllen könnte.

Aber der Elf erhob sich ernst und ruhig, und seine Augen bekamen einen Glanz von Zuversicht, er nahm die zitternde Hand der kleinen Maja und sagte:

„Komm, wir fliegen zusammen, dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.“

Elftes Kapitel

Die Elfenfahrt

So flogen der Blumenelf und die kleine Maja durch die Sommernacht dicht über den blühenden Blumen dahin. Als sie über den Bach kamen, blinkte das weiße Spiegelbild des Elfen im Wasser auf, als zöge ein Stern hindurch.

Mit wieviel Beglücktheit vertraute die kleine Biene sich diesem holden Wesen an! Sie hätte gar zu gern eine Menge wichtiger Fragen gestellt, aber sie wagte es nicht. Der Elf würde es schon gut hinausführen, das fühlte sie zuversichtlich.

Als sie miteinander durch eine hohe Pappelallee flogen, surrte es über ihnen, und ein dunkler Schmetterling, groß und stark wie ein Vogel, kreuzte ihren Weg. Der Blumenelf rief ihn an:

„Warte einen Augenblick, ich bitte dich!“ rief er.

Maja war sehr erstaunt, wie bereitwillig der dunkle Falter dem Ruf gehorchte. Sie ließen sich auf einem Ast der hohen Pappel nieder. Neben ihnen flüsterte das bewegliche Laub im Mond, und man sah weit in die stille, beschienene Nachtlandschaft. Der Falter saß Maja grade gegenüber mitten im Mondlicht. Er hob seine ausgebreiteten Flügel langsam und senkte sie wieder sanft, als wollte er jemandem Kühlung zufächeln. Maja sah, daß quer über die Flügel breite Streifen liefen von einem hellen, herrlichen Blau. Sein schwarzer Kopf war wie mit dunklem Samt gedeckt, und sein Gesicht, darin ein schwarzes Augenpaar glühte, sah aus, als trüge er eine seltsam geheimnisvolle Maske. Wie wunderbar waren die Tiere der Nacht. Maja fröstelte ein wenig, ihr war zumut, als träumte sie den sonderbarsten Traum ihres Lebens.

„Sie sind sehr schön,“ sagte sie zu dem Fremden, „also wirklich …“ Ihr war ganz feierlich zu Sinn.

„Wen hast du denn da bei dir?“ fragte der Nachtfalter den Elf.

„Es ist eine Biene“, antwortete der Elf. „Ich bin ihr begegnet, als ich den Blumenkelch verließ.“

Der Falter schien zu wissen, was sich damit verband, denn er sah Maja beinahe ein wenig neidisch an und nickte ihr ernst und gedankenvoll zu.

„Sie Glückliche“, sagte er dann leise.

„Sind denn Sie vielleicht traurig?“ fragte Maja herzlich.

Der Falter schüttelte den Kopf.

„Nein, das nicht“, sagte er freundlich und dankbar und sah Maja so lieb an, daß sie gern gleich Freundschaft mit ihm geschlossen hätte. Aber dazu war er zu groß.

Nun fragte der Blumenelf den Falter, ob die Fledermaus schon zur Ruhe gegangen sei.

„O ja,“ antwortete der Falter, „schon längst. Du meinst wohl wegen deiner Begleiterin?“ fügte er hinzu.

Der Elf nickte, und Maja hätte gern gewußt, was eine Fledermaus ist, aber der Elf schien es eilig zu haben. In holder Ruhlosigkeit warf er sein schimmerndes Haar zurück. „Eine Nacht ist so kurz,“ sagte er, „komm, Maja, wir müssen eilen.“

„Soll ich dich ein Stückchen tragen?“ fragte der Nachtfalter.

Der Elf dankte. „Ein andermal!“ rief er.

So wird es nie mehr sein, dachte die kleine Biene, als sie weiterflogen, denn im Morgenrot muß der Blumenelf sterben.

Der Nachtfalter blieb noch sitzen und sah den beiden nach, bis der Schein des Elfenkleides immer kleiner und kleiner wurde und endlich ganz in den Tiefen der blauen Ferne versank. Dann drehte er sich langsam auf seinem Blatt etwas herum, wandte den Kopf und betrachtete seine großen dunklen Flügel mit den breiten blauen Bändern darauf. Er wurde dabei sehr nachdenklich.

Ich habe so oft gehört, sann er, daß ich grau und häßlich bin und daß mein Kleid den prächtigen Gewändern der Tagesfalter nicht zu vergleichen wäre. Die kleine Biene hat an mir nur das gesehen, was schön ist. — Und dann dachte er darüber nach, ob er nicht vielleicht doch traurig sei, Maja hatte ihn danach gefragt. „Nein,“ sagte er endlich, „ich bin es jetzt nicht mehr, so viel ist sicher.“ —

Indessen flogen Maja und der Blumenelf durch das dichte Gebüsch eines Gartens. Das war eine Pracht im gedämpften Mondglanz, wie kein irdischer Mund sie nennen kann. Ein betörend süßer Hauch von Taukühle und schlummernden Blumen verzauberte alles zu unaussprechlichen Wohltaten der Natur. Die lila Trauben der Akazien funkelten vor Frische, und der Junirosenbusch sah wie ein kleiner blühender Himmel voller roter Lampen aus. Bleich und traurig glommen die weißen Sterne des Jasmin, sie strömten einen Duft aus, als wollten sie noch in dieser Stunde alles verschenken, was ihr eigen war. Maja wurde ganz verwirrt und preßte die Hand des Elfen, dessen Augen verklärt und selig schimmerten.

„Wer hätte das gedacht,“ sagte die kleine Maja, „nein, wer hätte das für möglich gehalten.“ Aber da erblickte sie etwas, das sie von Herzen traurig stimmte.

„O,“ rief sie, „sieh, ein Stern ist gefallen! Nun irrt er umher und kann seinen Platz am Himmel nicht wiederfinden.“

„Es ist ein Glühkäferchen“, sagte der Blumenelf ernst.

Da merkte Maja trotz ihres Erstaunens zum erstenmal, warum ihr der Elf so liebevoll erschien. Er lachte niemals über ihre Unkenntnis, sondern er half ihren armen Gedanken, wenn sie sich nicht zurechtfinden konnten.

„Es sind seltsame Tierchen“, fuhr der Elf fort. „Sie tragen ihr eigenes Licht durch die laue Nacht umher, so beleben sie das Dunkel unter den Kuppeln der Büsche, wohin der Mond nicht dringt und finden einander leicht. Später sollst du einen kennenlernen, wenn wir zu den Menschen kommen.“

Maja wollte wissen weshalb.

„Gleich wirst du es sehen“, sagte der Blumenelf.

Sie waren inzwischen an einer Laube angekommen, die über und über von Jasmin und Gaisblatt bewachsen war. Sie ließen sich dicht am Boden nieder, ganz in der Nähe der Laube, aus der ein leises Flüstern klang. Der Blumenelf winkte einem Glühkäferchen. „Sei so gut,“ bat er den Kleinen, „leuchte ein wenig, wir müssen hier durch die dunklen Blätter hindurch, um in das Innere der Jasminlaube zu dringen.“

„Aber dein Schein ist ja viel heller als meiner“, sagte der Glühkäfer.

„Das finde ich auch“, meinte Maja, eigentlich nur um ihre Erregung zu verbergen.

„Ich muß mich in ein Blatt einhüllen,“ erklärte der Elf, „sonst sehen die Menschen mich und sie würden erschrecken. Wir Elfen erscheinen den Menschen nur in ihren Träumen.“

„Das ist etwas anderes“, sagte der Glühkäfer. „Mach gütigst Gebrauch von mir. Ich werde tun, was ich kann. Wird das große Tier, das du bei dir hast, mir nichts zu leide tun?“

Der Elf schüttelte den Kopf, und der Glühkäfer glaubte ihm gleich.

Nun nahm der Blumenelf ein Blatt und wickelte sich sorgfältig hinein, so daß sein weißes Kleid nirgends durchschimmerte. Dann pflückte er eine kleine blaue Glockenblume, die er im Gras fand, und setzte sie wie einen Helm auf sein leuchtendes Haar. Nun war nur sein weißes Gesicht zu sehen, das so klein war, daß sicher niemand es entdeckt hätte. Er bat den Glühkäfer, sich auf seine Schulter zu setzen und sein Lämpchen an der einen Seite mit dem Flügel ein wenig abzudämpfen, damit es die Augen nicht blendete. Dann nahm er Majas Hand und sagte:

„Nun komm. Am besten klettern wir hier empor.“

Die kleine Maja dachte an das, was der Elf vorhin erzählt hatte, und fragte, während sie in den Ranken aufwärtsstiegen:

„Träumen die Menschen, wenn sie schlafen?“

„Nicht nur dann,“ sagte der Elf, „sondern sie träumen zuweilen auch, wenn sie wachen. Dann sitzen sie da, etwas in sich zusammengesunken, ihr Kopf neigt sich ein wenig, und ihre Augen suchen in der Ferne, als ob sie bis in den Himmel schauen möchten. Immer sind ihre Träume schöner als das Leben, deshalb erscheinen wir ihnen darin.“

Aber da legte der Elf rasch das winzige Fingerchen auf seine Lippen, bog einen keinen blühenden Jasminzweig zur Seite und schob dann Maja ein wenig vor.

„Sieh nun hinab,“ sagte er leise, „dort findest du, was du dir gewünscht hast.“

Da sah die kleine Biene im Mondschatten auf einer Bank zwei Menschen sitzen. Es waren ein Mädchen und ein Jüngling. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, und sein Arm hielt sie umschlungen, als ob er sie schützen wollte. Sie saßen ganz still da und schauten mit großen Augen in die Nacht. Es war so ruhig, als wären sie beide eingeschlafen, nur in der Ferne hörte man die Grillen und langsam, langsam wanderte das Mondlicht in den Blättern.

Die kleine Maja sah voll Entzücken in das Gesicht des Mädchens. Obgleich es bleich und traurig erschien, lag doch ein Schimmer von großem Glück darüber, der wie ein heimliches Leuchten war. Über den großen Augen ruhte goldenes Haar, wie auch der Elf es hatte, und auf dem Haar lag der Himmelsschein der Sommernacht. Von ihren roten Lippen, die ein klein wenig geöffnet waren, ging ein Hauch von Wehmut und Seligkeit, als ob sie alles, was ihr eigen war, zum Glück des Mannes dahingeben wollte der an ihrer Seite saß. Und nun wandte sie sich ihm zu und zog sein Haupt zu sich nieder und sagte etwas, das ein Lächeln in sein Gesicht zauberte, wie Maja nie geglaubt hatte, daß ein Wesen der Erde lächeln könnte. In seinen Augen strahlten ein Glück und eine Kraft, als ob die ganze, große Erde sein Eigentum wäre und als wären Leid und Ungemach für immer aus der Welt verbannt.

Es verlangte Maja nicht danach zu wissen, was er dem Mädchen antwortete. Ihr Herz zitterte, als sei die Seligkeit, die von den Menschen unter ihr ausging, auch ihr Eigentum. „Nun habe ich das Herrlichste gesehen,“ flüsterte sie bebend, „was meine Augen jemals schauen werden. Ich weiß nun, daß die Menschen am schönsten sind, wenn sie einander liebhaben.“

Sie wußte nicht, wie lange sie so still und in Schaun versunken hinter den Blättern gesessen hatte. Als sie sich umwandte, war der Schein des Glühkäfers erloschen, und der Elf war fort.

Da erblickte sie durch den Ausgang der Laube fern über der Landschaft einen schmalen, roten Lichtstreif am Horizont.

Zwölftes Kapitel

Der Dichter Alois Siebenpunkt

Die Sonne war schon hoch über die Kronen der Buchen emporgestiegen, als Maja am anderen Morgen in ihrer Waldburg erwachte. Anfangs glaubte sie, das ganze Erlebnis der letzten Nacht sei ein schöner Traum gewesen, aber dann entsann sie sich, daß sie in der kühlen Morgendämmerung in ihrer Behausung angelangt war, und nun war es fast schon Mittag. Nein, es war Wirklichkeit gewesen, sie hatte die Nacht mit dem Elfen verbracht und die Menschen gesehen, die sich in der Jasminlaube im Mondschein umschlungen gehalten hatten.

Draußen brannte die Sonne heiß auf den Blättern, es zog ein warmer Wind, und sie hörte die vielerlei Stimmen der Insekten. Ach, was wußten die anderen, und was wußte sie! Sie war so stolz auf ihr Erlebnis, daß sie gar nicht rasch genug hinauskommen konnte, sie meinte, alle müßten es ihr ansehen, was ihr geschehen war.

Aber draußen in der Sonne nahm alles den gewohnten Gang. Nichts war verändert, und nichts erinnerte an die blaue Nacht. Die Insekten kamen, grüßten und zogen, drüben auf der Wiese war über den hohen bunten Sommerblumen, im Flimmern der heißen Luft, ein großer Verkehr. Maja ward plötzlich ganz traurig zumut. Sie fühlte, daß es niemand in der Welt gab, der an ihrem Glück oder an ihrer Betrübnis teilnahm. Sie konnte sich nicht entschließen, zu den anderen hinüberzufliegen. Ich will in den Wald, dachte sie, der Wald ist ernst und feierlich, er paßt zu dem Zustand, in welchem mein Herz sich befindet.

Wieviel Geheimnisvolles und wie viele Wunder das Waldesdunkel birgt, ahnt wohl niemand, der rasch und gedankenlos auf den gebahnten Wegen dahingeht. Dazu muß man die Zweige der Büsche auseinandergebogen haben, oder seine Blicke zwischen den Brombeerranken hindurch in die hohen Gräser und über das dichte Moos schweifen lassen. Unter schattigen Blättern der Pflanzen, in Erdlöchern und Baumhöhlen, zwischen den morschen Rinden verwitterter Holzstümpfe und im krausen Schlingwerk der Wurzeln, die sich wie Schlangenleiber über den Erdboden dahinwinden, ist Tag und Nacht ein reges und vielgestaltiges Leben, voller Freuden und Gefahren, voller Kampf und Leid und Vergnügen.

Die kleine Maja ahnte von alledem nur wenig, als sie zwischen den braunen Stämmen und dem grünen Blätterdach dahinflog. Sie erkannte unter sich im Gras eine schmale Spur, die als ein deutlicher Weg durch Dickicht und Lichtungen führte. Zuweilen schien es ihr, als verschwände die Sonne hinter Wolken, so tief wurden die Schatten unter den hohen Kronen und im dichten Buschwerk; dann wieder flog sie in lauter goldgrünem Glänzen dahin, unter sich die breitblätterigen kleinen Wälder der Waldfarren und blühende Brombeerranken.

Endlich öffnete der Wald seine überdachten Säulentore, und vor Majas Blicken lag ein weites Kornfeld in der goldenen Sonne. In den Ähren leuchteten Kornblumen und Mohn. Die kleine Biene ließ sich in den Zweigen einer Birke nieder, die am Rand des Feldes stand, und betrachtete entzückt das goldene Meer, das sich im Frieden des stillen Tags vor ihr ausbreitete. Es erschien ihr unabsehbar weit, und es gingen sanfte Wogen darüber hin; das tat der schüchterne Sommerwind, der so liebreich wehte, um nirgends die Ruhe der schönen Welt zu stören.

Ein paar kleine braune Schmetterlinge spielten unter der Birke über dem Korn ‚Von Mohn zu Mohn‘. Das ist unter jungen Schmetterlingen ein sehr beliebtes Gesellschaftsspiel. Jeder Schmetterling setzt sich auf eine Blume, und es muß ein Spieler mehr da sein, als Blumen in der Nähe stehen. Dieser eine sitzt in der Mitte des Kreises und ruft. Wenn sein Ruf erklingt, müssen alle auffliegen und die Blumen wechseln. Wer zu spät kommt und keine Blume mehr findet, wird in die Mitte geschickt und muß abrufen. Das war sehr unterhaltend.

Maja sah eine Weile zu, es machte ihr viel Vergnügen. Das könnte man auch die kleinen Bienen im Stock lehren, dachte sie, da nennen wir es dann ‚Von Zelle zu Zelle‘. Aber Kassandra wird wahrscheinlich zu streng sein.

Die kleine Maja wurde plötzlich traurig gestimmt, das kam sicher durch ihre Erinnerung an die Heimat. Als sie darüber nachdenken wollte, sagte neben ihr jemand:

„Guten Morgen. Sie sind eine Bestie, wie mir scheint.“

Die kleine Maja erschrak sehr und drehte sich rasch um.

„Nein,“ sagte sie, „bestimmt nicht!“

Neben ihr saß eine kleine braune Halbkugel mit sieben schwarzen Punkten darauf. Unter dieser rotbraunen Kuppel, die übrigens prächtig glänzte, sah man ein winziges schwarzes Köpfchen, in dem zwei helle Äuglein funkelten, und nun erkannte Maja auch die dünnen Beinchen, die, fein wie Fäden, unter der punktierten Kuppel hervorschauten und sie so gut trugen als sie eben konnten. Dieser kleine Dicke war es, der Maja angerufen hatte. Trotz seiner seltsamen Gestalt gefiel er der Biene ausgezeichnet, er hatte etwas gradezu Anmutiges.

„Wer sind Sie nur?“ fragte sie, „ich selbst bin Maja, vom Volk der Bienen.“

„Wollen Sie mich beleidigen?“ fragte der Kleine. „Dazu liegt kein Grund vor, das merken Sie sich.“

„Aber wie sollte ich dazu kommen?“ fragte die kleine Maja ganz erschrocken, „ich kenne Sie in der Tat nicht.“

„Das kann jeder sagen“, meinte der Dicke. „Nun, ich will Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Zählen Sie.“ Und der Kleine begann sich langsam umzudrehn.

„Soll ich Ihre Punkte zählen?“

„Ja, bitte schön“, sagte der Käfer.

„Es sind sieben Punkte“, sagte Maja.

„Nun?“ fragte der Käfer, „also? Sie wissen es immer noch nicht? So will ich es Ihnen sagen. Ich heiße genau so, wie sich nachzählen läßt. Ich gehöre zur Familie der Siebenpunkte, heiße Alois und bin meines Zeichens Dichter. Die Menschen nennen mich auch Marienkäfer. Das ist ihre Sache. Aber das wissen Sie ja jedenfalls.“

Maja wagte nicht nein zu sagen, denn sie fürchtete Alois zu kränken.

„O,“ sagte Alois, „ich lebe vom Sonnenschein, vom Frieden des Tages und von der Liebe der Menschen.“

„Aber essen Sie denn nichts?“ fragte Maja überrascht.

„Doch, Blattläuse. Sie nicht?“

„Nein,“ sagte Maja, „das ist doch …“

„Was ist es denn? Wie?“

„Es ist nicht üblich“, sagte Maja schüchtern.

„Natürlich!“ rief Alois und versuchte die eine Schulter hochzuziehen, was ihm aber wegen seiner festen Kuppel nicht gelang, „Sie tun als Bürgerliche selbstverständlich nur das, was üblich ist. Damit kämen wir Dichter nicht weit. Haben Sie Zeit?“

„Doch,“ sagte Maja, „gewiß.“

„Dann werde ich Ihnen eine Dichtung vortragen. Sitzen Sie still und schließen Sie die Augen, damit die Umgebung Sie nicht stört. Das Gedicht heißt ‚Der Menschenfinger‘. Es ist ein persönliches Erlebnis und von mir. Hören Sie?“

„Ja,“ sagte Maja, „jedes Wort.“

„Also:

Der Menschenfinger

Einmal hast du mich entdeckt,
als ich Glück im Leben hatte.
Du bist rund und langgestreckt.
Oben hast du eine glatte,
zugespitzte Panzerplatte,
welche sich bewegen läßt,
aber unten sitzt du fest!

Nun?“ fragte Alois nach einem kleinen Schweigen. Er hatte Tränen in den Augen und seine Stimme zitterte.

„Der Menschenfinger hat mich sehr ergriffen“, meinte Maja, die etwas verlegen geworden war. Eigentlich kannte sie schönere Lieder.

„Wie finden Sie die Form?“ fragte Alois und lächelte wehmütig. Er war sichtlich durch die Wirkung überwältigt, die er hervorgebracht hatte.

„Rund und langgestreckt“, antwortete Maja. „Sie haben es ja selbst gedichtet.“

„Ich meine die künstlerische Form, ich meine die Form meiner Dichtung.“

„Ah,“ sagte Maja, „ach so. Ja, die finde ich gut.“

„Nicht wahr?“ rief Alois. „Sie wollten sagen, daß dies Lied dem besten eingereiht werden kann, was Sie kennen, daß man weit zurückgreifen muß, ehe man etwas Verwandtes findet. Die Kunst muß zunächst Neuigkeiten enthalten, das ist es, was die meisten Dichter übersehen. Und dann Größe, nicht wahr?“

„Doch,“ sagte Maja, „ich glaube …“

„Ihr zuversichtlicher Glaube an meine Bedeutung, den Sie ausgesprochen haben,“ sagte Alois, „beschämt mich gradezu. Haben Sie Dank. Ich muß nun weiter, denn die Einsamkeit ist die Zierde des Künstlers. Leben Sie wohl.“

„Adieu“, sagte Maja, die gar nicht recht wußte, was der Kleine eigentlich gewollt hatte. Nun, er selbst wird es schon wissen, dachte sie. Groß ist er ja eigentlich nicht, aber vielleicht wächst er noch. Sie sah ihm nach, wie er eifrig den Zweig hinaufkrabbelte. Man konnte seine winzigen Beinchen kaum unterscheiden, so daß es aussah, als schöbe er sich auf kleinen Rollen davon.

Dann sah Maja wieder auf das goldene Kornfeld nieder, über dem die Schmetterlinge spielten. Das gefiel ihr weit besser als das Werk des Alois Siebenpunkt.

Dreizehntes Kapitel

Die Räuberburg

Ach, wie froh hatte dieser Tag begonnen, und wie voller Angst und Schrecken sollte er enden. Maja hatte zuvor noch eine sehr merkwürdige Bekanntschaft gemacht, es war am Nachmittag gewesen, in der Nähe einer großen alten Wassertonne. Sie saß in den duftenden Holunderblüten, die sich in der stillen, schwarzen Wasserfläche der Tonne spiegelten. Über ihr sang ein Rotkehlchen so lieblich und froh, daß die kleine Maja es gradezu trostlos fand, daß man sich mit den Vögeln nicht befreunden konnte. Sie waren zu groß und fraßen einen auf, das war die Sache. Sie hatte sich in der weißen Blütendolde des Holunder versteckt und lauschte und blinzelte dabei mit den Augen, so daß der Sonnenschein ihr spitze Pfeile schickte, als neben ihr jemand seufzte. Als sie sich umdrehte, sah sie das sonderbarste Tier, das ihr jemals begegnet war. Auf den ersten Blick glaubte sie, daß es mindestens hundert Beine an jeder Seite hatte. Es war wohl dreimal so lang wie sie selbst, aber schmal und niedrig und ohne Flügel.

„Himmel noch mal!“ rief Maja ganz erschrocken, „Sie müssen aber laufen können.“

Der Fremde sah sie nachdenklich an.

„Ich zweifle daran,“ meinte er, „es könnte besser sein. Ich habe zu viele Beine. Wissen Sie, ehe man sie alle bewegt hat, vergeht zu viel Zeit. Es gab Zeiten, in denen ich das nicht gewußt habe, da ist mir oft der Wunsch gekommen, ich hätte ein paar Beine mehr. Aber wie Gott will. Wer sind denn Sie?“

Maja stellte sich vor.

Der andere nickte und bewegte einige Beine.

„Ich bin Hieronymus,“ sagte er, „von der Familie der Tausendfüßler. Wir sind ein altes Geschlecht und erregen überall Bewunderung. Es gibt keine Tiere, die annähernd unsere Beinzahl aufzuweisen haben. Acht ist das Höchste bei den andern, soviel ich weiß.“

„Sie sind fabelhaft interessant,“ sagte die kleine Maja, „und sehr eigenartig in der Farbe. Haben Sie Familie?“

„Aber nein! Wieso denn?“ fragte der Tausendfüßler. „Wohin sollte das führen? Wir kriechen aus dem Ei und damit basta. Wenn nicht einmal wir auf eigenen Füßen stehen könnten, wer sollte es dann können?“

„Das ist ja richtig,“ meinte Maja nachdenklich, „aber haben Sie gar keinen Anschluß?“

„Nein, meine Gute. Ich ernähre mich und zweifle.“

„Ach, woran zweifeln Sie denn?“

„Es ist mir angeboren,“ entgegnete der Fremde, „ich muß immer zweifeln.“

Maja sah ihn mit großen, erstaunten Augen an. Sie verstand nicht, wie er das meinte, und wollte doch nicht allzu neugierig in seine Angelegenheiten eindringen.

„Ich zweifle daran,“ sagte nach einer Weile Hieronymus, „daß Sie sich hier einen günstigen Ort zum Aufenthalt ausgesucht haben. Wissen Sie nicht, was drüben in der großen Weide liegt?“

„Nein.“

„Sehen Sie, ich habe gleich bezweifelt, daß Sie es wissen. Dort liegt die Hornissenstadt.“

Maja wäre fast von der Blütendolde gefallen, so furchtbar erschrak sie. Sie wurde totenblaß, und zitternd fragte sie, wo die Stadt läge.

„Sehen Sie dort den alten Starenkasten im Gebüsch am Stamm der Weide? Er ist so ungeschickt angebracht, daß ich gleich daran gezweifelt habe, daß er jemals von Staren bezogen wird. Wenn so ein Kasten nicht gegen Sonnenaufgang geöffnet ist, besinnt sich jeder anständige Vogel, ehe er einzieht. Die Hornissen haben nun darin ihre Stadt angelegt und befestigt. Es ist die größte Hornissenburg im Land. Das sollten Sie eigentlich wissen, denn soviel ich beobachtet habe, stellen diese Räuber euch Bienen nach.“

Maja hörte kaum noch zu. Sie unterschied deutlich die braunen Mauern der Burg im Grün, und ihr Atem stockte.

„Ich muß fort,“ rief sie, „so rasch als möglich.“

Aber da klang hinter ihr ein lautes, böses Lachen, und gleich darauf fühlte die kleine Maja sich so energisch am Kragen gepackt, daß sie meinte, ihr Genick sei gebrochen. Nie in ihrem Leben hat sie dies Lachen vergessen können. Es klang wie ein Hohngelächter aus der Finsternis, und ein grauenerregendes Klirren von einem Panzer mischte sich hinein.

Hieronymus ließ sich mit allen seinen Beinen zugleich los und purzelte durch die Zweige in die Wassertonne.

„Ich zweifle daran, daß es gut geht“, rief er, aber das hörte die arme kleine Biene nicht mehr.

Sie konnte sich anfangs kaum umkehren, so fest wurde sie gehalten. Sie sah einen goldgepanzerten Arm und dann plötzlich über sich einen ungeheuren Kopf mit fürchterlichen Zangen. Zuerst glaubte sie, es sei eine riesengroße Wespe, aber dann erkannte sie, daß sie sich in den Fängen einer Hornisse befand. Das schwarz und gelb getigerte Ungeheuer war wohl viermal so groß wie sie selbst.

Endlich löste sich ihre Stimme, und sie schrie so laut um Hilfe, als sie konnte.

„Laß doch, Kerlchen“, meinte die Hornisse mit einer ganz unausstehlichen Freundlichkeit und lächelte Maja böse an. „Es dauert nur so lange, bis es vorüber ist.“

„Lassen Sie mich los,“ schrie Maja, „oder ich steche Sie ins Herz.“

„Gleich ins Herz?“ lachte der Räuber, „das ist ja sehr mutig. Aber es hat noch Zeit, meine Kleine.“

Maja geriet in furchtbare Wut. Mit Aufwendung aller ihrer Kräfte drehte sie sich herum, stieß ihren hellen, hohen Kampfruf aus und richtete ihren Stachel der Hornisse mitten auf die Brust. Aber da geschah das angsterregende Wunder, daß ihr Stachel sich umbog, ohne einzudringen. Er prallte am Panzer des Räubers ab.

Die Augen der Hornisse funkelten vor Zorn.

„Ich könnte dir jetzt deinen Kopf abbeißen, Kleine, um dich für diese Unverschämtheit zu strafen,“ sagte sie grimmig, „und ich würde es auch tun, wenn die Königin nicht lieber frische Biene äße, als tote Biene. So einen fetten Bissen, wie du es bist, bringt man der Königin, wenn man ein guter Soldat ist.“

Und sie flog mit Maja in die Luft empor und grade auf die Räuberburg zu.

Nein, das ist zuviel, dachte die arme Biene, das hält niemand aus. Und sie verlor die Besinnung.

Als sie nach längerer Zeit aus ihrer Betäubung erwachte war es um sie her schwül und dämmerig, und die Luft war von einem scharfen durchdringenden Geruch erfüllt, der ihr schrecklicher erschien, als alles was sie kannte. Langsam besann sie sich, und eine lähmende Traurigkeit sank in ihr Herz. Sie wollte weinen und konnte nicht.

„Noch bin ich nicht gefressen,“ sagte sie zitternd, „aber es kann jeden Augenblick stattfinden.“

Durch die Wände ihres Kerkers vernahm sie deutlich Stimmen. Nun sah sie auch, daß ein wenig Licht durch eine schmale Spalte fiel. Die Hornissen bauten ihre Mauern nicht aus Wachs, wie die Bienen, sondern aus einer trockenen Masse, die wie lockeres graues Papier aussah. Im schmalen Lichtstreifen, der in ihren Kerker drang, erkannte sie nun auch langsam ihre Umgebung, und sie erstarrte beinahe vor Schreck, als sie rings umher Tote liegen sah. Grade zu ihren Füßen lag ein kleiner Rosenkäfer auf dem Rücken, und etwas weiter zur Seite erkannte sie das Gerüst eines großen Laufkäfers, zur Hälfte durchbrochen, und überall lagen Flügel und Panzerdecken hingemordeter Bienen.

„Ach, daß mir dies geschehn mußte“, wimmerte die kleine Maja. Sie wagte sich nicht mehr zu rühren und preßte sich frierend vor Entsetzen und Angst in die äußerste Ecke der schrecklichen Kammer.

Da hörte sie durch die Wand wieder deutlich die Stimmen der Hornissen, und von Todesangst getrieben kroch sie an den kleinen Spalt und schaute hindurch.

Da sah sie einen großen Saal, der ganz mit Hornissen angefüllt war und der von einer großen Anzahl von gefangenen Glühkäfern auf das prächtigste erleuchtet wurde. Auf einem Thron inmitten der Ihren saß die Königin. Es schien eine wichtige Beratung stattzufinden, Maja verstand jedes Wort.

Wenn ihr nur diese glitzernden Ungeheuer nicht solch unsägliches Entsetzen eingeflößt hätten, sie würde sicher über ihre Kraft und Pracht in Entzücken geraten sein. Zum erstenmal erkannte sie jetzt deutlich, wie die Räuber aussahen. Mit Staunen und Zittern sah sie den Prunk der goldenen Panzer, die den ganzen Leib hinunter mit herrlichen schwarzen Schienen verziert waren, so daß man einen Eindruck von ihnen hatte, wie wohl ein Kind ihn haben mag, das zum erstenmal einen Tiger erblickt.

Ein Wächter ging an den Wänden des Saals umher und forderte die Glühkäfer auf, aus Leibeskräften zu leuchten. Er tat es leise und drohend, um die Beratung nicht zu stören, stieß mit einer langen Stange nach ihnen und zischte jedesmal.

„Leuchte, sonst freß ich dich!“

Es war ganz fürchterlich, wie es in der Hornissenburg zuging.

Da hörte Maja die Hornissenkönigin sagen:

„Also bleibt es bei unserer Abmachung: Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, versammeln sich die Krieger. Die Stadt der Bienen im Schloßpark wird überfallen. Der Stock wird ausgeraubt und möglichst viele Gefangene werden gemacht. Wer Helene die Achte, die Bienenkönigin, gefangennimmt und mir lebendig überliefert, wird in den Ritterstand erhoben. Haltet euch tapfer und bringt mir gute Beute heim. Und hiermit hebe ich die Versammlung auf. Begebt euch zur Ruhe!“

Sie erhob sich nach diesen Worten und verließ mit ihrem Gefolge den Saal.

Die kleine Maja hätte beinahe laut aufgeweint.

„Mein Volk,“ schluchzte sie, „meine Heimat!“ Sie preßte ihre Hände in den Mund, um nicht zu schreien, ihre Verzweiflung war grenzenlos. „Ach, wäre ich gestorben, ehe ich dies hören mußte“, wimmerte sie. „Niemand wird die Meinen warnen. Sie werden im Schlaf überfallen und ermordet. O lieber Gott, tu ein Wunder, hilf mir, hilf mir und meinem Volk aus unserer Not.“

Im Saal wurden die Glühkäferchen ausgelöscht und aufgefressen. Es wurde langsam still in der Burg. An Maja schien niemand mehr zu denken.

Langsam kam ein schwaches Dämmerlicht in ihrem Kerker auf, und ihr war, als klänge von außen her das Nachtlied der Grillen. Nie war der Biene etwas furchtbarer erschienen, als dies Burgverließ mit seinen Totengerippen.

Vierzehntes Kapitel

Die Flucht

Aber die Verzweiflung der kleinen Biene machte bald einer entschlossenen Besinnung Platz. Es war, als erinnerte sie sich wieder daran, daß sie eine Biene war. Hier sitze ich nun und weine und klage, dachte sie plötzlich, als ob ich nicht Gedanken und Kräfte hätte. O, ich mache meinem bedrohten Volk und meiner Königin wenig Ehre. Sterben muß ich doch, da will ich es wenigstens stolz und mutig tun und nichts unversucht lassen, die Meinen zu retten.

Es war, als vergäße sie ganz die lange Zeit der Trennung von den Ihren und der Heimat, sie fühlte sich ihnen zugehöriger als je, und die große Verantwortung, die plötzlich auf ihr ruhte, weil sie den Plan der Hornissen kannte, verlieh ihr große Entschlossenheit und viel Mut.

Müssen die Meinen unterliegen und sterben, so will ich es auch, dachte sie, aber vorher will ich nichts ungetan lassen, sie zu retten.

„Es lebe meine Königin!“ rief sie.

„Ruhe da drinnen!“ scholl es barsch von außen.

Hu, war das eine fürchterliche Stimme. Es mußte der Wächter gewesen sein, der die Runde machte. Offenbar war es längst Nacht.

Als der Schritt draußen verhallt war, begann Maja sogleich damit, den Spalt zu erweitern, der in den Saal führte. Es gelang ihr leicht, die mürbe Wand zu zerbeißen, wenn sie auch lange Zeit brauchte, bevor die Öffnung groß genug war. Endlich konnte sie sich hindurchzwängen. Sie tat es vorsichtig und mit pochendem Herzen, sie wußte, daß es ihr Leben kosten würde, wenn man sie entdeckte. Aus unbekannten Gründen der Burg scholl ein tiefes Schnarchen.

Der Saal lag in gedämpftem blauen Licht, das vom Eingang hineinsank. Das ist Licht vom Mond, wußte Maja und schritt vorsichtig dahin, wobei sie sich stets in den tiefen Schatten an den Wänden hielt. Vom Saal führte ein schmaler hoher Flur zum Ausgang, von dort kam das Himmelslicht der Nacht. Maja seufzte tief auf, sie sah ganz fern in unendlicher Weite einen Stern am Himmel schimmern. Ach Freiheit, dachte sie.

Der Gang war ganz hell. Leise, Schritt für Schritt, schlich sie voran, das Tor kam immer näher. Wenn ich jetzt auffliege, dachte sie, so bin ich draußen. Ihr Herz schlug in der Brust, als ob es sie zersprengen wollte.

Da sah sie im Schatten des Tores an einer Säule den Wächter lehnen.

Wie angewurzelt blieb sie stehen, alle ihre Hoffnung sank dahin. Dort war kein Vorüberkommen. Was sollte sie tun? Das Beste wird sein, ich kehre um, dachte sie, aber der Anblick des Riesen am Tor hielt sie im Bann. Es schien, als schaute er ganz in Gedanken versunken in die beleuchtete Nachtlandschaft hinaus. Er hatte sein Kinn in die Hand gestützt, und sein Kopf war ein wenig geneigt. Wie der goldene Panzer im Mond glänzte! In seiner Haltung war etwas, das die kleine Maja bewegte. Er sieht so traurig aus, dachte sie, wie schön er ist, wie edel ist seine Haltung und wie stolz funkelt seine Rüstung. Tag und Nacht legt er sie nicht ab, er ist immer bereit zu rauben, zu kämpfen und zu sterben …

Die kleine Maja vergaß ganz, daß es ihr Feind war, den sie vor sich sah. Ach, wie oft war es ihr so gegangen, daß ihr Herz und seine Freude am Schönen sie alle Gefahr vergessen ließ.

Da schoß ein goldener Lichtblitz vom Helm des Räubers, er mußte den Kopf bewegt haben.

„Lieber Gott,“ flüsterte die kleine Maja, „jetzt ist es aus.“

Da sagte der Wächter ganz ruhig:

„Komm nur näher, Kleine.“

„Was?“ rief Maja, „wie? Sie haben mich gesehen?“

„Doch, Kind, schon lange. Du hast ein Loch in die Wand gebissen, und hast dich dann, immer hübsch im Schatten, bis hierher bewegt. Dann hast du mich gesehen und mit deinem Mut war es zu Ende. Ist es so?“

„Ja,“ sagte Maja, „Sie haben ganz recht.“ Sie zitterte vor Grauen am ganzen Körper. Also die ganze Zeit über hatte der Wächter sie beobachtet. Sie erinnerte sich nun, davon gehört zu haben, wie scharf die Sinne dieser klugen Räuber sind.

„Was willst du denn hier?“ fragte der Wächter gutmütig. Maja fand immer noch, daß er traurig aussah, er schien an ganz andere Dinge zu denken, ihm war dies alles gar nicht so wichtig wie ihr selbst.

„Hinaus möchte ich“, antwortete sie. „Ich habe auch nicht den Mut verloren, sondern ich war nur erschrocken über Ihre Kraft und Schönheit und über den goldenen Glanz Ihrer Rüstung. Jetzt werde ich mit Ihnen kämpfen.“

Der Wächter beugte sich erstaunt ein wenig vor und sah Maja an und lächelte. Es war gar nicht böse, dies Lächeln, die kleine Biene hatte dabei ein Empfinden, das sie noch niemals im Leben gekannt hatte. Ihr war zumute, als ob dieses Lächeln des jungen Kriegers eine heimliche Gewalt über ihr Herz ausübte.

„Kleine,“ sagte er beinahe herzlich, „nein, kämpfen werden wir nicht. Ihr seid ein mächtiges Volk, aber wir sind stärker. Am wenigsten aber wird je eine einzelne Hornisse mit einer einzelnen Biene kämpfen. — Wenn du magst, kannst du gern ein wenig hierbleiben und mit mir plaudern. Aber nur noch kurz, bald werde ich die Soldaten wecken und dann mußt du in deine Zelle zurück.“

Seltsam, diese überlegene Freundlichkeit der Hornisse entwaffnete Maja mehr, als Zorn oder Haß es gekonnt hätten. Es war beinahe etwas wie Bewunderung, das sie empfand. Sie sah mit großen traurigen Augen zu ihrem Feind auf, und da sie immer dem Zug ihres Herzens folgen mußte, sagte sie:

„Ich habe stets nur Böses von den Hornissen gehört, aber Sie sind nicht böse. Ich kann nicht glauben, daß Sie böse sind.“

Der Krieger sah Maja ruhig an:

„Es gibt überall böse und gute Leute“, sagte er ernst. „Aber wir sind eure Feinde, das vergiß nicht. Es wird immer so bleiben.“

„Muß denn ein Feind immer schlecht sein?“ fragte Maja. „Als Sie vorhin in die Nacht hinausschauten, habe ich vergessen müssen, daß Sie hart und mir feindlich sind. Mir war zumute, als ob Sie traurig wären, und ich habe immer gemeint, Wesen, die traurig sind, können unmöglich böse sein.“

Und als der Wächter schwieg, fuhr Maja um vieles mutiger fort:

„Sie sind mächtig. Wenn Sie wollen, können Sie mich wieder in meine Zelle schaffen und ich muß sterben, aber wenn Sie wollen, so können Sie mir auch meine Freiheit schenken.“

Da richtete der Krieger sich auf. Sein Panzer klirrte ein wenig, und der Arm, den er hob, blinkte im Mondlicht, das verblassend auf dem Tor lag. Kam schon der Morgen?

„Du hast ganz recht,“ sagte er, „diese Macht habe ich. Diese Macht ist mir von meinem Volk und meiner Königin anvertraut worden. Der Befehl lautet, daß keine Biene je wieder die Burg lebendig verlassen darf, die sie einmal betreten hat. Ich werde meinem Volk Treue halten.“ Und nach einer Weile des Schweigens fügte er leiser hinzu, als spräche er zu sich selbst: „Ich habe zu bitter erfahren, wie weh die Untreue tun kann, als Schnuck mich verließ …“

Die kleine Maja stand erschüttert und wußte nichts zu antworten. Ach, sie selber trieb das gleiche Gefühl, die Liebe zu den Ihren, die Treue gegen ihr Volk. Sie fühlte, hier gab es kein anderes Mittel mehr als List oder Gewalt, es tat jeder seine Pflicht und doch blieben sie einander fremd und feind. — Aber hatte der Krieger nicht zuletzt einen Namen genannt? Hatte er nicht von einer Untreue gesprochen, die jemand gegen ihn begangen hatte? Schnuck kannte sie ja, war das nicht die schöne Libelle gewesen, die am Seeufer bei den Wasserrosen wohnte? Sie bebte vor Aufregung, vielleicht lag hier eine Rettung für sie, aber sie wußte noch nicht, inwiefern. Vorsichtig fragte sie:

„Wer ist denn Schnuck, wenn ich fragen darf?“

„Ach, das kümmert dich nicht, Kleine,“ antwortete der Wächter, „sie ist für mich verloren und ich werde sie nie mehr finden.“

„Ich kenne Schnuck,“ sagte Maja und zwang sich zur Gelassenheit, „sie gehört zur Familie der Libellen und ist wahrscheinlich die schönste, die es unter ihnen gibt.“

Maja hatte den Krieger noch nicht so gesehen, wie nach diesen Worten, er schien alles um sich her vergessen zu haben und sprang stürmisch auf sie zu.

„Wie?“ rief er, „du kennst Schnuck? Sofort sagst du, wo sie ist.“

„Nein“, sagte die kleine Maja, ganz still und fest. Aber innerlich glühte sie vor Freude.

„Ich beiße dir den Kopf ab, wenn du nicht sprichst“, rief der Wächter. Er kam ganz nahe.

„Der wird mir ja sowieso abgebissen. Tun Sie’s nur! Ich werde doch nicht die liebliche Libelle verraten, mit der ich eng befreundet bin! Jedenfalls wollen Sie sie gefangennehmen.“

Der Krieger atmete schwer. Da es draußen zu dämmern begann, sah Maja, daß seine Stirn bleich war und seine Augen voll Angst und Unfrieden.

„Mein Gott,“ sagte er verstört, „es ist Zeit, ich muß die Krieger wecken. — Nein, nein, kleine Biene, ich will Schnuck nichts Böses tun. Ich liebe Schnuck mehr als mein Leben. Sag mir, wo ich sie wiederfinde!“

„Ich liebe mein Leben auch“, sagte die kleine Maja klug und zögernd.

„Wenn du mir den Aufenthalt der Libelle Schnuck verrätst,“ sagte der Wächter und Maja sah, daß er mühsam sprach und am ganzen Körper zitterte, „so werde ich dich freigeben, dann kannst du fliegen, wohin du willst.“

„Werden Sie Wort halten?“

„Mein Ehrenwort als Räuber“, sagte der Wächter stolz.

Die kleine Maja konnte kaum sprechen. Kam es nicht auf jede einzelne Minute an, wenn sie die Ihren noch rechtzeitig vor dem Überfall warnen wollte? Aber ihr Herz jubelte.

„Gut“, sagte sie. „Ich glaube Ihnen. So hören Sie: Kennen Sie die alten Linden beim Schloß? Hinter ihnen ziehen sich viele Blumenwiesen hin und endlich kommt ein großer See. Im Seewinkel im Süden, wo der Bach einmündet, stehen in der Sonne die weißen Seerosen im Wasser. Dort im Schilf wohnt Schnuck, Sie finden sie jeden Mittag dort, wenn die Sonne hoch steht.“

Der Krieger hatte beide Hände an seine blasse Stirn gedrückt. Er schien schwer mit sich selbst zu kämpfen.

„Du hast recht“, sagte er leise und stöhnte so, daß man nicht sagen konnte, ob er Schmerz oder Freude empfand. „Sie hat mir erzählt, sie wollte zu weißen schwimmenden Blumen. Das werden die Blumen sein, von denen du gesprochen hast. So flieg denn, und hab’ Dank!“

Und wirklich trat er vom Eingang zurück. Draußen dämmerte der Tag herauf.

„Ein Räuber hält sein Wort“, sagte er. Er wußte nicht, was die kleine Maja in dieser Nacht in der Burg gehört hatte, und so dachte er: Was liegt an einer kleinen Biene, gibt es nicht genug andere?

„Leben Sie wohl“, rief Maja und flog davon, atemlos vor Hast und ohne ein Wort des Dankes. Es war wirklich keine Zeit mehr dazu.

Fünfzehntes Kapitel

Die Heimkehr

Die kleine Maja nahm ihre ganzen Kräfte zusammen, alles an Willen und Tatkraft, was ihr geblieben war. Wie eine Kugel aus dem Lauf einer Jagdbüchse flog sie blitzschnell schnurgrade durch die bläuliche Morgenluft dahin, grade auf den Wald zu. Die Bienen können rascher fliegen als die meisten anderen Insekten. Dort war sie zunächst sicher, dort konnte sie sich verstecken, falls die Hornisse bereuen sollte, sie freigegeben zu haben, und ihr folgte.

Aus den Bäumen fielen schwere Tropfen in die welken Blätter des Waldbodens. Es war so kalt, daß der Biene die Flügel zu erstarren drohten. Überall lagen feine Schleier in der Ebene, und vom Morgenrot war nichts zu sehen. Dabei war es so still in der Runde, als habe die Sonne die Erde vergessen und als hätten alle Wesen sich zu einem Todesschlaf niedergelegt. Da flog Maja so hoch empor in die Luft als sie konnte. Es galt für sie nur eines: sie mußte so rasch als ihre Kräfte und Sinne zuließen, den Stock der Ihren finden, ihr Volk, ihre bedrohte Heimat. Sie mußte die Ihren warnen, daß sie sich gegen den Überfall rüsten konnten, den die furchtbaren Räuber an diesem Morgen planten. O, das Volk der Bienen war stark und wohl befähigt, den Kampf mit den überlegenen Gegnern aufzunehmen, wenn sie sich wappnen konnten und zur Verteidigung vorbereiten. Niemals aber, wenn sie überrumpelt und im Erwachen überfallen wurden. Wenn die Königin und die Soldaten noch schliefen, dann würde es ein furchtbares Morden geben und viele Gefangene, und der Erfolg der Hornissen war gewiß. Und nun, da die kleine Biene an die Kraft und die Stärke der Ihren dachte, an ihre Todesbereitschaft und ihre Treue gegen die Königin, überkam sie ein hoher Zorn gegen die Feinde und zugleich ein beseligter Opferwille und ein beglückender Mut ihrer begeisterten Liebe.

Es war nicht leicht für sie, sich in der Umgegend zurechtzufinden. Sie hatte sich schon seit lange nicht mehr auf jene Art das Land gemerkt, wie die anderen Bienen es gewohnt waren, die immer von weiten Ausflügen mit ihrer Honigtracht zum Stock zurückfinden mußten.

Ihr war, als sei sie noch niemals so hoch in der Luft gewesen, wie nun, die Kühle tat ihr weh, und sie konnte die einzelnen Gegenstände drunten kaum noch deutlich unterscheiden. Worauf soll ich mich verlassen, dachte sie, ich habe keinen Anhalt und werde den Meinen keine Hilfe bringen können. „Ach, hier war nun die beste Gelegenheit, alles gutzumachen,“ seufzte sie in ihrer Angst, „was soll ich tun?“ Aber plötzlich trieb es sie mit heimlichen Mächten unwiderstehlich nach einer bestimmten Richtung hin. Was ist es nur, das mich drängt und zieht, dachte sie, es muß mein Heimweh sein, das mich führt. Und sie überließ sich diesem Gefühl und flog so rasch sie konnte gradeaus. Und plötzlich brach sie in helles Jubeln aus, dort schimmerten fern wie graue Kuppeln aus der Dämmerung die Baumkronen der großen Linden des Schloßparks. Nun wußte sie sich zurechtzufinden und augenblicklich ließ sie sich bis dicht über die Erde nieder. Sie sah auf den Wiesen zur Seite die hellen Nebelstriche wieder dichter und dachte an die Blumenelfen, die dort getrost und selig ihren frühen Tod starben. Das füllte ihr das Herz aufs neue mit Zuversicht, und ihre Angst verlor sich. Mochten die Ihren sie wegen ihrer Flucht aus dem Reiche verachten, mochte die Königin sie strafen, wenn nur ihr Volk von dem furchtbaren Unheil verschont blieb, das ihm drohte.

Dort schimmerte schon dicht an der langen Steinmauer die Blautanne, die die Bienenstadt der Ihren gegen den Westwind schützte, und nun sah sie die bekannten Fluglöcher, die roten, blauen und grünen Tore ihrer Heimat leuchten. Ihr Herz schlug so stürmisch, daß sie glaubte, ihr Atem müßte ihr vergehn, aber sie hielt aus und steuerte grade auf den Eingang des roten Tors zu; dort führte es zu ihrem Volk und zu ihrer Königin.

Als sie sich auf dem Flugbrett vor dem Tore niederließ, vertraten ihr die beiden Wächter den Eingang und ergriffen sie sogleich. Maja konnte in ihrer Atemlosigkeit anfangs kein Wort hervorbringen, und die Wachen machten Miene, sie zu töten. Denn es ist den Bienen bei Todesstrafe verboten, in eine fremde Stadt zu dringen ohne den Willen der Königin.

„Zurück!“ rief der Wächter und stieß sie rauh vor sich her, „was kommt Ihnen in den Sinn?! Wenn Sie nicht augenblicklich umkehren, ist es um Sie geschehen.“ Und dem anderen Wächter zugewandt, sagte er: „Ist dir schon einmal so etwas vorgekommen, und noch dazu vor Tagesanbruch?“

Da rief Maja das Losungswort ihres Volks, woran alle Bienen die Ihren erkannten, und die Wächter ließen sie augenblicklich los.

„Was ist das?!“ riefen sie, „du bist eine der Unsrigen, und wir kennen dich nicht?“

„Laßt mich vor die Königin,“ stöhnte die kleine Maja, „gleich, rasch, es droht großes Unheil.“

Die Wächter zögerten noch, sie verstanden nicht, was vor sich ging.

„Die Königin darf nicht vor Sonnenaufgang geweckt werden“, sagte der eine von ihnen.

Da schrie Maja so laut und leidenschaftlich, wie die beiden wohl niemals eine Biene haben schreien hören:

„So erwacht die Königin vielleicht nie mehr zum Leben! Der Tod folgt mir auf dem Fuß.“ Und sie fügte so wild und zornig hinzu: „Ihr sollt mich vor die Königin führen!“ daß die Wächter ganz erschrocken und tief ergriffen gehorchten.

Nun eilten sie miteinander durch die warmen, vertrauten Straßen und Gänge, die Maja alle wiedererkannte, und obgleich ihre Erregung und Hast sie fast überwältigten, zitterte doch ihr Herz vor Wehmut unter den Wohltaten ihrer Heimat.

„Ich bin zu Hause“, stammelte sie mit blassen Lippen.

Im Empfangssaal der Königin brach sie beinahe zusammen. Einer der Wächter stützte sie, während der andere mit der ungewöhnlichen Botschaft in die Gemächer der Königin eilte. Sie hatten nun beide erkannt, daß etwas ganz Außerordentliches im Anzuge war, und der Bote lief so rasch, als seine Füße ihn trugen.

Die ersten Wachsbereiterinnen waren schon auf, neugierig schaute hier und da ein Köpfchen durch die Eingänge, die Nachricht dieses Vorfalls verbreitete sich schnell.

Da kamen zwei Offiziere aus den Gemächern der Königin. Maja erkannte sie sogleich, sie nahmen ernst und schweigend am Eingang ihre Stellungen ein, ohne Maja anzureden; nun mußte gleich die Königin erscheinen.

Sie kam ohne ihren Hofstaat, nur in Begleitung zweier Dienerinnen und ihres Leibadjutanten. Als sie Maja sah, trat sie schnell auf sie zu, und da sie den argen Zustand und die große Erregung der kleinen Biene sah, verlor sich der Zug von Ernst und Strenge ein wenig, der in ihrem Gesicht gelegen hatte.

„Du kommst mit einer wichtigen Botschaft?“ fragte sie ruhig. „Wer bist du?“

Maja konnte nicht gleich sprechen. Endlich brachte sie mühsam nur die Worte hervor:

„Die Hornissen!“

Die Königin erbleichte, aber sie blieb gefaßt, und das beruhigte auch Maja ein wenig.

„Großmächtige Königin,“ rief sie, „vergib mir, daß ich die Pflichten nicht beachte, die deine Hoheit und Würde erheischen, ich will später alles sagen, was ich getan habe und was ich von Herzen bereue. Ich bin in dieser Nacht wie durch ein Wunder der Gefangenschaft der Hornissen entronnen, und das letzte, was ich von ihnen gehört habe, ist, daß in der Morgendämmerung dieses Tages unser Reich überfallen und ausgeraubt werden soll!“

Das Entsetzen, das diese Worte der kleinen Maja bei allen Anwesenden hervorriefen, läßt sich kaum schildern. Die beiden Dienerinnen, die die Königin begleiteten, brachen in lautes Jammern aus, und die Offiziere am Eingang machten Miene, bleich vor Schreck, davonzufliegen und Alarm zu schlagen. Der Adjutant sagte: „Ja Herrgott …“, und drehte sich einmal um sich selbst, weil er sich nach allen Seiten zugleich umsehen wollte.

Es war wirklich ein ganz außerordentlicher Anblick, zu sehen, mit welcher Ruhe und Geisteskraft die Königin die furchtbare Nachricht aufnahm. Sie reckte sich ein wenig empor, und in ihre Haltung kam etwas, was alle einschüchterte und ihnen zugleich ein grenzenloses Vertrauen einflößte. Die kleine Maja zitterte vor Erhobenheit, so etwas Bedeutungsvolles an Überlegenheit glaubte sie noch niemals gesehen zu haben. Und die Königin winkte die Offiziere an ihre Seite und sprach laut und gefaßt ein paar rasche Sätze zu ihnen. Maja hörte zum Schluß noch die Worte: „Ich gebe euch eine Minute zur Ausführung meines Befehls, wenn es länger dauert, kostet es euren Kopf.“ Aber die beiden Offiziere sahen gar nicht so aus, als ob man sie anfeuern müßte; sie stürmten davon, daß es eine Freude zu sehen war.

„O, meine Königin“, sagte die kleine Maja.

Da neigte sich die Königin noch für einen kleinen Augenblick zu Maja nieder, noch einmal für kurze Zeit sah die kleine Biene das Angesicht ihrer Fürstin milde und voll Liebe erstrahlen.

„Hab’ Dank,“ sagte sie zu Maja, „du hast uns alle gerettet, was immer vorher geschehen sein mag, du hast es tausendfältig gut gemacht. Aber nun geh und ruh dich aus, mein Herzchen, du siehst elend aus, und deine Hände zittern.“

„Ich möchte für dich sterben“, stammelte Maja bebend.

Da antwortete die Königin:

„Sei nun ohne Sorge um uns. Unter all den Tausenden, die diese Stadt bewohnen, ist nicht eine einzige, die nicht ohne Besinnen ihr Leben für das Wohl der anderen und für mein Wohl hingeben würde. Du kannst ruhig schlafen.“

Sie beugte sich zu der kleinen Maja nieder und küßte sie auf ihre Stirn, dann winkte sie ihren Dienerinnen und befahl ihnen, für das Wohl und die Ruhe Majas Sorge zu tragen.

Die kleine Biene ließ sich willenlos und tief von Herzen beglückt davonführen. Ihr war zumute, als habe ihr das Leben nun nichts Schöneres mehr zu geben. Sie hörte wie im Traum noch in der Ferne hohe helle Signalrufe, sah wie die Würdenträger des Staates sich um die Eingänge der Königsgemächer drängten, und dann vernahm sie ein dumpfes, weithinhallendes Dröhnen, das den ganzen Stock erschütterte.

„Die Soldaten! Unsere Soldaten!“ flüsterte neben ihr die Dienerin.

Das letzte, was sie in der kleinen stillen Kammer hörte, in der ihre Begleiterinnen sie zur Ruhe betteten, war dicht unter ihrer Tür der Marschschritt vorbeieilender Truppen. Sie vernahm eine klare Kommandostimme, die froh und zuversichtlich klang, und in ihren ersten Traum hinein tönte das alte Soldatenlied der Bienen, und sie hörte, verklingend wie aus weiter Ferne:

Sonne, goldne Sonne du
leuchte unserm Treiben.
Segne unsere Königin,
laß uns einig bleiben.

Sechzehntes Kapitel

Die Schlacht der Bienen und Hornissen

Es herrschte eine ungeheuere Erregung im Reich der Bienen. Selbst in den Tagen der Revolution war der Aufruhr nicht so groß gewesen. Der Stock brauste. Es war nicht eine Biene, die nicht von einem heiligen Zorn der Empörung befallen war und von glühendem Verlangen, den alten Todfeinden mit ganzer Kraft zu begegnen. Und doch traten weder Verwirrung noch Unordnung ein, es war gradezu erstaunlich, wie rasch die Regimenter sich gesammelt hatten und wie gut jeder wußte, was seine Pflicht war und wodurch er sich nützlich machen konnte.

Allerdings war es die höchste Zeit. Als auf den Ruf der Königin die Freiwilligen vortraten, die sich als erste zu der Verteidigung des Eingangs hergaben, kamen rasch wie sausende Pünktchen die ersten Botschafter zurück, die ausgesandt worden waren und nun meldeten, daß die Hornissen nahten. Es trat eine furchtbare Ruhe der Erwartung ein. Mit gefaßtem Ernst und bleich vor Stolz, standen die ersten Soldaten hart am Eingang in drei geschlossenen Reihen. Keiner sprach mehr, es war totenstill umher. Nur im Hintergrund hörte man die leisen Kommandorufe der Offiziere, die die Reserven ordneten. Es schien, als schliefe der Stock. Nur am Tor arbeiteten leise und fieberhaft noch etwa ein Dutzend Wachsbereiterinnen, die den Befehl erhalten hatten, den Eingang mit Wachs zu verengen. Wie durch ein Wunder waren in den wenig Minuten zwei dicke Wachswände entstanden, die auch die stärkste Hornisse nicht ohne Zeitverlust zerstören konnte. Das Flugloch war fast um die Hälfte verkleinert worden.

Die Königin hatte einen Posten inne, von dem aus sie in der Lage war, den Kampf zu überblicken. Ihre Adjutanten eilten und flogen hin und her. Nun war schon der dritte Kundschafter zurück. Er sank völlig erschöpft vor der Königin nieder.

„Ich bin der Letzte, der zurückkommt,“ schrie er mit äußerster Anstrengung, „die andern sind tot.“

„Wo sind die Hornissen?“ fragte die Königin.

„Bei den Linden“, rief er, und dann stammelte er in Todesangst: „Hört, hört! die Luft saust von den Flügeln der Riesen!“

Es war nichts zu hören. Es mußte seine Angst sein, daß er immer noch glaubte, verfolgt zu werden.

„Wie viele sind es?“ fragte die Königin streng, „sprich leise.“

„Ich habe vierzig gezählt“, flüsterte der Botschafter, und obgleich die Königin über die Stärke des Feindes erschrak, sagte sie doch laut und zuversichtlich:

„Es wird keine von ihnen ihre Heimat wiedersehen.“

Die Worte der Königin wirkten auf die Soldaten und Offiziere wie eine furchtbare Wahrsagung zum Unheil des Feindes, und der Mut aller hob sich.

Als aber nun draußen in der stillen Morgenluft erst leise und dann lauter und lauter ein scharfes unheilvolles Surren entstand, als der Eingang sich verdunkelte und alle deutlich die schrecklichen Flüsterstimmen dieser grausamsten Räuber und Mörder vernahmen, die es in der Welt der Insekten gibt, da erbleichten die Angesichter der kleinen mutigen Bienen, als ob ein fahler Lichtschein über die Reihen sänke. Sie sahen einander mit Augen an, in denen der Tod wartete, und die ersten wußten, daß keine Minute mehr vergehen würde, bis sie ihr Leben gelassen hatten.

Da klang die gefaßte Stimme der Königin ruhig und klar aus der Höhe:

„Laßt die Räuber eindringen, einen nach dem andern, bis ihr meinen Befehl hört, dann stürzen die ersten Reihen, je hundert zugleich, sich auf die Eingedrungenen, und die hinteren Reihen decken den Eingang. Auf diese Art teilen wir die Streitmacht des Feindes. Bedenkt ihr Ersten, von eurer Kraft und Ausdauer und von eurem Mut hängt das Wohl des ganzen Staates ab. Aber seid getrost, die Feinde werden im Dämmerlicht nicht sogleich erkennen, wie wohl wir gerüstet sind und arglos eindringen …“

Sie brach ihre Worte ab, denn im Tor erschien der Kopf des ersten Räubers. Tastend und vorsichtig spielten die Fühler, die Zangen öffneten und schlossen sich, daß einem das Blut erstarren konnte, und langsam schob der ungeheure getigerte Leib mit seinen starken Flügeln sich nach. Der Panzer funkelte im Licht, das von außen eindrang.

Es ging wie ein Zittern durch die Reihen der Bienen, aber kein Laut war vernehmbar.

Die Hornisse trat leise zurück, und man hörte ihre Meldung:

„Der Stock schläft! Aber der Eingang ist halb vermauert und es sind keine Wächter da. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.“

„Ein gutes!“ klang es von außen, „vorwärts!“

Da sprangen zwei Riesen nebeneinander hinein, lautlos drängte es flimmernd, getigert und gepanzert nach. Es war fürchterlich anzuschauen. Nun waren schon acht der Räuber im Stock und immer noch erklang kein Befehl der Königin. War sie vor Entsetzen erstarrt, daß ihre Stimme versagte? Sahen denn die Räuber immer noch nicht, daß zur Rechten und zur Linken dicht gedrängt und todesbereit im Schatten die glitzernden Reihen der Soldaten standen …

Da klang es laut aus der Höhe:

„Im Namen eines ewigen Rechts und im Namen der Königin, verteidigt das Reich!“

Da erhob sich ein Brausen und füllte die Luft, wie noch kein Kriegsgeschrei die Stadt erschüttert hatte. Es erschien, als müsse der ganze Stock durch dies tobende Brummen zersprengt werden, und wo eben noch klar gesondert die einzelnen Hornissen kenntlich gewesen waren, wälzten sich nun in dichten, dunklen Knäueln brausende Haufen. Ein junger Offizier der Bienen hatte kaum das Ende des Kommandos abgewartet. Er wollte der erste sein, der angriff, und er war der erste, der starb. Er hatte schon eine Weile bebend vor Kampfeslust, zum Sprung bereit dagestanden, und als über ihm das erste Wort des Befehls laut wurde, stürmte er vor, gerade dem vordersten Räuber in die Fänge, und sein feiner, unendlich spitzer Stachel fand den Weg zwischen dem Kopf und dem Brustring in den Hals seines Gegners. Er sah noch, wie die Hornisse sich mit einem wütenden Aufschrei zusammenkrümmte, so daß sie für einen Augenblick wie eine gelbschwarze, glitzernde Kugel erschien, dann drang der furchtbare Stachel des Räubers dem jungen Offizier durch die Brustringe ins Herz, und sterbend sah er sich und den tödlich getroffenen Feind in einer Wolke der Seinen versinken. Sein kühner Soldatentod hatte allen die wilde Seligkeit einer hohen Todesbereitschaft ins Herz gesenkt, und der Ansturm der Bienen wurde zu einer furchtbaren Not für die Eindringlinge.

Aber die Hornissen sind ein altes, kampfgewohntes Räubervolk, und Morden und Rauben ist ihnen längst zum grausigen Handwerk geworden. Wenn auch der erste Anprall der Bienen sie verwirrt und versprengt hatte, so bedeutete er nicht so viel an Schaden, als es anfangs erscheinen mochte. Denn die Stachel der Bienen drangen nicht durch die Panzer der Riesen, und die Kraft und Größe der Hornissen gab ihnen eine Überlegenheit, derer sie sich wohl bewußt waren. Ihre durchdringenden, surrenden Kampfrufe, vor denen alle Wesen in Entsetzen geraten, die sie hören, überhallten das Kriegsgeschrei der Bienen. Fürchten doch sogar die Menschen diesen Warnruf der Hornissen und weichen ihnen lieber aus, ehe sie ungewappnet den Kampf mit ihnen wagen.

Die überfallenen Hornissen, die bereits in den Stock eingedrungen waren, erkannten rasch, daß sie vor allen Dingen vordringen mußten, um den Ihren draußen nicht selbst den Eingang zu sperren. Und so wälzten sich die kämpfenden Knäuel voran in die dunklen Straßen und Gänge. Wie richtig war der Befehl der Königin gewesen, denn kaum war ein wenig Platz am Eingang entstanden, da stürzten die hinteren Reihen der Soldaten vor, um ihn zu verteidigen. Es war eine altbewährte und furchtbare Kampfweise, die befolgt wurde. Kaum hatte eine Hornisse sich am Eingang im Kampfe ermüdet, so taten die Bienen, als seien sie selbst erschöpft, und ließen den Räuber eindringen. Aber stets gelang es nur dieser einen Hornisse in die Stadt zu gelangen, denn kaum drängte die zweite nach, so stürzte sich auch schon ein dichter Schwarm neuer Soldaten auf das scheinbar unverteidigte Tor. Und der eingedrungene Gegner, der vom Kampf ermüdet war, sah sich plötzlich den glitzernden Reihen ganz neuer Bienenkrieger gegenüber, die noch kein Glied im Kampf gerührt hatten, und meist erlag er schon im ersten Ansturm ihrer Übermacht.

Aber in die Kampfrufe mischten sich nun schon seit lange das Todesgeschrei der Sterbenden, das Jammern der Verwundeten und ein wildes, schmerzvolles Stöhnen voll Todesangst und Abschiedsweh. Die furchtbaren Stachel der Hornissen hatten in der entsetzlichsten Weise unter den Bienen gewütet. Die wälzenden Haufen der Kämpfenden im Stock ließen eine ganze Bahn von Toten zurück. Die eingeschlossenen Hornissen hatten erkannt, daß ihnen der Ausweg abgeschnitten war, und daß wohl keine von ihnen das Tageslicht wieder erblicken würde. So kämpften sie einen furchtbaren Verzweiflungskampf. Aber langsam erlagen sie doch, eine nach der anderen, denn es trat ein Umstand ein, der den Bienen sehr zugunsten kam, erschöpfte sich auch die Kraft der Riesen nicht so rasch, so erschöpfte sich doch das Gift ihrer Stachel und ihre Stiche wirkten nicht mehr tödlich. Die verwundeten Bienen wußten jetzt, daß sie sich erholen würden, das gab ihnen ein ganz neues Siegesbewußtsein, zu dem der Schmerz um ihre Toten kam, der ihnen höchste Kräfte des Zorns verlieh.

Langsam wurde es stiller. Die lauten Zurufe der Hornissen vor dem Stock fanden keinen Widerhall mehr bei den eingedrungenen Gefährten.

„Sie sind alle tot“, sagte die Führerin der Hornissen in grimmigem Schmerz und rief die Kämpfenden vom Tor zurück. Ihre Schar war auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Bis zu ihnen hinaus tönte das Dröhnen des zornigen Bienenstocks.

„Es muß Verrat vorliegen,“ sagte die Führerin wieder, „die Bienen waren vorbereitet.“

Sie hatten sich auf der Blautanne versammelt. Es war langsam immer heller geworden, und das Morgenrot vergoldete schon die Wipfel der Linden. Die Vogelrufe wurden laut, und der Tau fiel. Bleich und vor Kampfeswut zitternd standen die Krieger um ihre Führerin, die innerlich mit sich rang, ob sie ihrer Raublust oder ihrer Klugheit gehorchen sollte. Nein, sie sah ein, es ging nicht an, der ganze Stamm der Ihren war in Gefahr, aufgerieben zu werden. Und mit Widerwillen und vor beleidigtem Ehrgeiz bebend, beschloß sie, einen Boten an die Bienen zu senden, um die Eingeschlossenen zu retten.

Sie wählte den klügsten ihrer Offiziere, den sie kannte, und rief seinen Namen.

Ein bedrücktes Schweigen war die Antwort. Er war unter den Eingeschlossenen.

Da wählte sie einen andern, rasch und angstvoll, plötzlich überkam sie eine Todesangst um die Ihren, die nicht zurückkehrten. Das Toben der Bienenstadt war weithin vernehmbar.

„Eile dich!“ rief sie und gab dem Friedensboten ein weißes Jasminblatt in die Hand, „sonst kommen am Ende noch die Menschen, und wir sind verloren. Sag ihnen, wir würden davonziehen und ihren Stock für immer verschonen, wenn sie die Eingeschlossenen ausliefern würden.“

Der Bote stürzte davon, schwenkte vor dem Tor sein weißes Blatt und ließ sich am Flugbrett nieder.

Sofort wurde der Bienenkönigin die Nachricht gebracht, es sei ein Abgesandter da, der verhandeln wollte, und die Herrscherin schickte ihm ihre Adjutanten. Als ihr die Kunde gebracht wurde, ließ sie die Antwort sagen:

„Wir Bienen liefern die Toten aus, wenn ihr sie mit euch nehmen wollt. Gefangene sind nicht gemacht. Die Euren, die eingedrungen sind, sind alle tot. Euerm Versprechen, nicht wiederzukommen, glauben wir nicht. Ihr könnt wiederkommen, wann ihr wollt, es wird euch niemals besser gehen als heute, und wenn ihr jetzt fortkämpfen wollt, so findet ihr uns bis auf den letzten Mann bereit.“

Die Führerin der Hornissen erbleichte, als sie diese Kunde vernahm. Mit geballten Fäusten kämpfte sie einen schweren inneren Kampf. Gar zu gern hätte sie dem Wunsch ihrer Krieger Folge geleistet, die um Rache schrien. Aber ihre Vernunft siegte.

„Wir kommen wieder“, knirschte sie. „Wie konnte uns dies geschehen? Sind wir nicht stärker und mächtiger, als das Volk der Bienen? Noch ist mir jeder Feldzug zu unserm Ruhm geglückt. Wie soll ich nach dieser Niederlage vor unsere Königin treten?“ Und wutbebend wiederholte sie: „Woran liegt das, was ist hier geschehen? Das kann nur Verrat sein.“

Da antwortete eine ältere Hornisse, die als eine Freundin der Königin galt:

„Wir sind wohl stärker und mächtiger, aber das Volk der Bienen ist einig und treu. Das ist eine große Macht, der niemand widerstehen kann. Keine würde ihr Volk verraten, jede dient zuerst dem Wohl aller.“

Die Führerin hörte kaum zu.

„Mein Tag wird kommen“, knirschte sie. „Was schert mich die Weisheit dieser Kleinbürger. Ich bin ein Räuber und will als Räuber sterben. Aber hier wäre kämpfen Wahnsinn. Was nützt es uns, wenn wir den ganzen Bienenstock vernichten und keiner von uns käme zurück?“ Und an den Boten gewandt, rief sie:

„Verlange die Toten. Wir ziehen.“

Es antwortete ihr ein dumpfes Schweigen. Der Wächter flog davon. —

„Wir müssen mit einer neuen Tücke rechnen, obgleich ich nicht glaube, daß die Hornissen noch große Kampfeslust haben“, sagte die Bienenkönigin, als sie diesen Entschluß der Feinde hörte. Sie befahl, daß zwei neue Abteilungen Krieger den Eingang zu decken hätten und daß die Wachsbereiterinnen und Trägerinnen und die Nachhut die Toten aus der Stadt schaffen sollten.

Und so geschah es. Über Berge von Toten hin wurde eine Räuberleiche nach der andern langsam zum Eingang geschafft und hinabgeworfen. In düsterem Schweigen verharrte drüben die Schar der Hornissen auf der Blautanne und sah die Körper der Gefallenen einen nach dem anderen zu Boden sinken. Es war ein Bild von grenzenloser Trauer, das die heraufsteigende Sonne beschien. Einundzwanzig Gefallene, die einen ruhmvollen Tod gestorben waren, häuften sich im Gras unter der geretteten Stadt. Kein Tröpflein Honig und keine Gefangenen gingen in die Hände des Feindes über. Die Hornissen ergriffen ihre Toten und flogen davon, die Schlacht war beendet, und das Volk der Bienen hatte gesiegt.

Aber welche Opfer hatte dieser Sieg gekostet! Überall lagen Tote umher, in den Straßen und Gängen und den dämmerigen Plätzen vor den Brut- und Honigschränken. Es gab eine traurige Arbeit im Stock an diesem schönen Sommermorgen voll Blumenblühen und Sonnenschein. Die Toten mußten hinausgeschafft und die Verwundeten verbunden und gepflegt werden. Aber bevor der Mittag heraufzog, begann schon wieder die gewohnte Arbeit im Stock. Denn die Bienen feierten weder ihren Sieg, noch trauerten sie lange Zeit um ihre Toten. Ein jeder trug seinen Stolz und seinen Schmerz still mit sich herum und ging seiner Pflicht und Arbeit nach. Es ist ein seltsames Volk, das Volk der Bienen.

Siebzehntes Kapitel

Die Freundin der Königin

Die kleine Maja war aus ihrem kurzen Schlaf der Betäubung erwacht, als der Kampfeslärm losbrach. Augenblicklich richtete sie sich auf und wollte hinausstürmen, um sich an der Verteidigung der Stadt zu beteiligen, aber da merkte sie, daß ihre Kräfte versagten und daß sie keine Hilfe leisten konnte.

Eine Gruppe der Kämpfenden wälzte sich in ihre Nähe. Es war eine junge, starke Hornisse, ihres Abzeichens ein Offizier, wie es Maja schien, die sich gegen eine gewaltige Übermacht von Bienen ganz allein verteidigte. Langsam wälzte das Knäuel sich näher. Maja sah mit Entsetzen, wie eine Biene nach der andern sterbend zurückblieb. Aber der Riese war zu sehr behindert. An seinen Armen, Beinen und Fühlern hingen Scharen von Soldaten, die sich eher töten ließen, ehe sie ihn freigaben. Und schon drangen die ersten Bienenstiche ihm zwischen die Panzerringe in die Brust. Maja sah ihn ermatten und niedersinken. Stumm, ohne Klage und kämpfend bis zuletzt, starb er seinen Räubertod. Er bat nicht um Gnade, und keine Schmähung kam über seine Lippen.

Kaum war er gefallen, als die Bienen zum Eingang zurückeilten, um sich aufs neue in den Kampf zu werfen. Der kleinen Maja hatte das Herz heiß und heftig gepocht, als sie dies gesehen hatte. Leise schlich sie zu dem Sterbenden. Gekrümmt lag er still im Dämmerlicht, aber er atmete noch. Maja zählte wohl zwanzig Stiche, aber die meisten waren vorn und sein goldener Panzer war unversehrt. Da Maja sah, daß er noch lebte, eilte sie fort und holte Wasser und Honig, um den Sterbenden noch einmal zu erfreuen, aber er schüttelte den Kopf und wehrte mit der Hand ab.

„Was ich haben will, nehme ich mir selbst,“ sagte er stolz, „geschenkt will ich nichts.“

„O,“ sagte die kleine Maja, „aber ich dachte nur, Sie hätten vielleicht Durst.“

Da lächelte der junge Offizier die kleine Maja an und sagte ganz eigenartig ernst und fast ohne Traurigkeit:

„Ich muß sterben.“

Die kleine Biene konnte nicht antworten. Ihr war, als begriffe sie zum erstenmal, was es hieß, sterben zu müssen. Ihr schien, als sei ihr der Tod viel näher, nun wo ein anderer ihn erleiden mußte, als damals, wo sie selbst im Netz der Spinne ihn erwartet hatte.

„Wenn ich doch etwas tun könnte“, sagte sie und weinte.

Der Sterbende antwortete ihr nicht mehr. Er schlug noch einmal seine Augen auf und atmete noch einmal tief, und beides tat er zum letztenmal.

Eine halbe Stunde später wurde er mit seinen erschlagenen Gefährten aus dem Stadttor nieder ins Gras geworfen. Aber die kleine Maja vergaß nicht mehr, was sie durch diesen kurzen Abschied erfahren hatte. Sie wußte nun für alle Zeit, daß auch ihre Feinde Wesen waren wie sie selbst. Daß sie ihr armes Leben liebten, wie sie selbst, und den schweren Tod sterben mußten ohne Hilfe. Sie mußte an den Blumenelf denken, der ihr von seiner Wiederkehr in jedem neuen Erblühen der Natur erzählt hatte, und sie wünschte sich sehr zu wissen, ob auch die anderen Wesen, die den Tod der Erde starben, zum Licht zurückkehrten.

„Ich will glauben, daß es so ist“, sagte sie leise. Da kam ein Bote und rief sie vor die Königin.

Maja fand den Hofstaat versammelt, als sie den Empfangssaal der Königin betrat. Ihre Füße zitterten und sie wagte kaum den Blick zu heben, in Gegenwart ihrer Fürstin und so vieler Würdenträger. Unter den Offizieren, die den Stab der Königin bildeten, fehlte so mancher der tapfersten, und die Stimmung im Saal war sehr ernst und außerordentlich feierlich. Aber auf den Stirnen aller lag ein Glanz von Erhobenheit, es war, als ob das Bewußtsein ihres Siegs und ihres neuen Ruhms alle wie ein heimliches Leuchten umgab.

Da erhob sich die Königin, trat ganz allein inmitten aller auf die kleine Maja zu und schloß sie in die Arme.

Ach, das hatte sie nicht erwartet, das ganz gewiß nicht, und ihre Freude war so groß, daß sie weinte. Es ging eine tiefe Bewegung durch die Reihen, und wahrscheinlich war niemand darunter, der das Glück der kleinen Maja nicht teilte und der ihr nicht von Herzen dankbar dafür war, für ihre Entschlossenheit und für den Wagemut ihrer raschen Warnung.

Und dann mußte sie erzählen. Jeder wünschte zu wissen, wie es gekommen war, daß sie die Pläne der Hornissen in Erfahrung gebracht hatte, wie es ihr gelungen war, dieser schrecklichen Gefangenschaft zu entrinnen, aus der noch keine Biene entkommen war.

Und sie erzählte von Anfang bis zu Ende alles Wichtige und Bedeutsame, was sie erlebt und erfahren hatte. Von Schnuck mit den glitzernden Flügeln, vom Grashüpfer, von der Spinne Thekla, von Puck und von Kurts liebevoller Hilfe. Als sie vom Elfen erzählte und von den Menschen, war es so still im Saal, daß man durch die Wände hören konnte, wie hinten die Trägerinnen im Stock Wachs kneteten.

„Ach nein,“ sagte die Königin, „wer hätte gedacht, wie lieblich die Elfen sind.“

Und sie lächelte vor sich hin, wehmütig und voll Sehnsucht, wie Leute lächeln, die Verlangen nach der Schönheit haben.

Und alle Würdenträger lächelten auf dieselbe Art mit.

„Wie war doch das Lied des Elfen?“ fragte die Königin, „sag es uns noch einmal, man sollte es wirklich behalten.“

Und die kleine Biene sagte noch einmal das Lied der Elfen:

Meine Seele ist der Hauch,
der aus aller Schönheit bricht,
wie aus Gottes Angesicht,
so aus seiner Schöpfung auch.

Es war eine kleine Weile still, nur im Hintergrund tönte ein verhaltenes Schluchzen. Wahrscheinlich dachte dort jemand an einen gefallenen Freund.

Als Maja dann fortfuhr zu berichten und von den Hornissen sprach, wurden alle Augen groß und still und dunkel. Jede versetzte sich in die Lage, in der eine der Ihren sich noch vor ganz kurzer Zeit befunden hatte, und ein leises Zittern und tiefe Atemzüge gingen durch die Reihen.

„Entsetzlich,“ sagte die Königin, „also schrecklich …“

Die Würdenträger sagten leise etwas Ähnliches.

„Und so bin ich denn endlich wieder angelangt,“ schloß Maja, „und ich bitte vielmals um Verzeihung.“

O, es wird allen verständlich sein, daß niemand der kleinen Maja ihre Flucht aus dem Stock nachtrug. Die Königin legte den Arm um ihren Hals und sagte gütig:

„Du hast deine Heimat und dein Volk nicht vergessen, und im Herzen warst du treu. So wollen auch wir dir Treue halten. Für die Zukunft sollst du an meiner Seite bleiben und mich in der Leitung der Staatsgeschäfte unterstützen, ich glaube, daß deine Erfahrungen und alles, was du gelernt hast, auf diese Art am besten allen zustatten kommen werden und dem Wohl des Staates.“

Diese Bestimmung der Königin wurde von den Anwesenden mit großem Jubel aufgenommen, und es ist dabei geblieben.

So endet die Geschichte von den Abenteuern der kleinen Biene Maja. Man hörte, daß ihre Wirksamkeit der Bienenstadt zum Wohl und Nutzen gereichte, daß sie zu hohem Ansehen kam und von ihrem Volk geliebt wurde. Zuweilen suchte sie an ruhigen Abenden für ein Stündchen der Unterhaltung das stille Kämmerchen auf, in dem immer noch Kassandra lebte, Gnadenhonig aß und alterte. Dort erzählte sie den jungen Bienen, die ihr gerne lauschten, die Geschichten, die wir mit ihr erlebt haben.